Wider die Repression

Ein zivilgesellschaftliches Tribunal hat den kolumbianischen Staat wegen Menschenrechtsverbrechen während der Proteste im Mai 2021 verurteilt

  • Sabine Jahr
  • Lesedauer: 6 Min.
Das zivilgesellschaftliche »Tribunal Popular en Siloé« trug Beweise für 159 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und 16 Morde zusammen.
Das zivilgesellschaftliche »Tribunal Popular en Siloé« trug Beweise für 159 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und 16 Morde zusammen.

Es riecht nach frisch geschnittenen Blumen. Sie sind auf dem Boden angeordnet, umrahmen bunt leuchtenden Sand, kleine Schalen, einen Korb frischer Früchte. Das Mandála stehe für die Elemente und für das Leben. »Aber es steht auch für die Leben derer, die ermordet worden sind. Für uns sind sie so präsent«, sagt Olga, während sie drei Kerzen entzündet. Sie ist eines der Mitglieder des »Tribunal Popular en Siloé«, der Initiative, die fast ein Jahr lang auf diesen Tag hingearbeitet hat.

Über 100 Menschen finden heute auf den Plastikstühlen in der großen Aula der öffentlichen Schule Platz, vor den Fenstern stehen Palmen. Die meisten Gäste dürften Aktivist*innen sein, das Tribunal wird von vielen verschiedenen kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem In- und Ausland unterstützt. Medienvertreter bauen Kameras auf, führen Interviews. Sogar einige Vertreter des Innenministeriums sind der Einladung gefolgt.

Gerade wird ein Livestream installiert. Die Schule liegt in der Nähe von Siloé, einem Viertel in der Zwei-Millionen-Stadt Cali im Südwesten Kolumbiens. Armutsquote und Arbeitslosigkeit sind dort extrem hoch, vor allem junge Menschen haben wenig Perspektiven. Während der sozialen Proteste im Mai 2021 wurde der Stadtteil zum Epizentrum der Auseinandersetzungen. Die Mehrheit derer, die in diesem Zeitraum ermordet wurden, war sehr jung und kam aus Siloé.

Schülerinnen und Schüler stromern neugierig durch den Saal, kichern, während sie ihr Englisch mit den internationalen Gästen ausprobieren, helfen beim Aufhängen von Transparenten. Die willkürliche Gewalt, die seitens des Staates gegen Protestierende ebenso wie gegen Unbeteiligte ausgeübt wurde, hätte jeden von ihnen treffen können.

Im Saal wird es still, als Verónica Giordano, eine der Geschworenen aus Buenos Aires, die Verlesung der Urteile eröffnet. Die Liste der Fälle ist lang und unerträglich. Sie zeugt von der massiven Brutalität, mit der Polizei und Militär vorgingen, um den Streik niederzuschlagen. Mit Helikoptern überflogen sie den Stadtteil und schossen in die Menge. »In den zwei Monaten des Aufstandes 2021 gab es neben regulären Verhaftungen die Einrichtung von Folterzentren, Verschwindenlassen, standrechtliche Erschießungen, koordinierte Aktionen von bewaffneten Zivilisten und staatlichen Sicherheitskräften, kurzum, ein ungeheures Ausmaß des Schreckens«, kommentiert Lateinamerika-Experte Raul Zelik, der ebenfalls Teil der Jury ist.

Der 36-jährige John Gerado Arenas Imbachi etwa passierte mit seinem Wagen die Polizeistation, die auf dem Weg nach Siloé liegt, als ihn die Kugel eines Scharfschützen tötete. Seine Mutter Blanca, eine zierliche Frau mit eindringlichen Augen, sitzt heute zusammen mit weiteren Müttern neben der Jury am Tisch der Angehörigen. Sie steht auf, setzt zu einer Erklärung an, ihre Stimme bricht. Die Frau neben ihr umarmt sie. Blanca sammelt sich. Sie sei zufällig zum Tribunal gekommen, auf einer Aktion vor dem Justizpalast habe sie andere Betroffene kennengelernt. »Das Tribunal ist für mich wie eine große Familie. Es ist für mich ein Segen, ich fühle mich begleitet und unterstützt.« Dass dieser Tag die Angehörigen dennoch viel Kraft kostet, ist ihnen anzusehen.

Abelardo Aranda ist ein rundlicher Mann mit einem kräftigen Händedruck und einem breiten Lächeln. Sein T-Shirt zeigt das Gesicht seines Sohnes Michael, der am 28. Mai 2021 im Alter von 24 Jahren ermordet wurde. Die ganze Zeit hält er die Hand seiner Frau, Italia Pérez. »Es tut mir weh zu wissen, dass zu Hause ein leerer Stuhl steht. Es ist schwer, aufzustehen und zu sprechen. Manchmal ersticke ich. Aber die Frauen hier geben mir die Kraft, die Verantwortlichen anzuprangern. Und ich werde jeden Tag für die jungen Menschen aufstehen, die vom Staat getötet wurden.«

In einem Land wie Kolumbien sind Morde an Menschenrechtsaktivist*innen an der Tagesordnung. 2022 waren es mindestens 189 Fälle. Es gehört sehr viel Mut dazu, mit Forderungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Von Beginn an hatten die Mitglieder des Tribunals mit Anfeindungen zu kämpfen. Ende Oktober erhielten sie eine schriftliche Todesdrohung von rechten Paramilitärs, die jeden zum »militärischen Ziel« erklärte, der die Arbeit des Tribunals unterstütze. Auch mit Schmierereien in Siloé wurde versucht, die Menschen vor Ort einzuschüchtern.

Abelardo blieb. Im Laufe der Monate meldeten sich immer mehr Menschen, deren Angehörige ermordet oder schwer verletzt worden waren. Insgesamt trug die Gruppe in intensiver Recherchearbeit Beweise für 159 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und 16 Morde zusammen. Handyvideos wurden ausgewertet, Zeugen befragt, Obduktionsberichte überprüft, Tatorte rekonstruiert. »Eigentlich haben wir die Arbeit gemacht, die die Behörden und die Gerichte hätten machen müssten«, sagt Italia Pérez. Zwar habe man auch Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft gestellt und die Beweise dort eingereicht, passiert sei bisher aber nichts.

Den Aktivist*innen geht es um mehr als um die juristische Strafverfolgung. »Wahrheit und Gerechtigkeit«, das Motto des Tribunals, bedeutet in diesem Kontext auch, gegen die Kriminalisierung derer anzugehen, die sich an den Protesten beteiligt haben. Die Hinterbliebenen wehren sich entschieden gegen den Versuch des Staates, ihre Angehörigen als Bandenmitglieder und Randalierer aus dem Armutsviertel zu stigmatisieren. Es ist auch ein Streiten für die Würde, für die Wahrnehmung der Stimmen der Bewohner*innen des marginalisierten Stadtteils Siloés. Im Publikum sitzt auch die 23-jährige Juliana. Sie wohnt in Siloé und studiert Sozialwissenschaften an der Universität in Cali. »Überall in der Stadt gab es schlimme Eskalationen, aber bei uns in Siloé war es wie im Krieg. Meine Schwester und ich, wir sind tagelang nicht rausgegangen. Menschen wurden beim Einkaufen erschossen, einfach so, ohne Konsequenzen für den Täter. Nach Siloé kam keine Hilfe, kein Krankenwagen. Wir wurden uns selbst überlassen.«

Viele ringen mit den Tränen, als es zum Höhepunkt der Veranstaltung kommt. In 16 Mordfällen spricht die 14-köpfige Jury den kolumbianischen Staat symbolisch schuldig wegen Verbrechen gegen die Menschenrechte und die Menschlichkeit. Namentlich werden als Verantwortliche unter anderem der Ex-Präsident Iván Duque, der ehemalige Militärgeneral Eduardo Enrique Zapateiro Altamirano und weitere hochrangige Politiker*innen wie Sicherheitskräfte benannt.

Unter Umarmungen wird die Urteilsschrift von der internationalen Jury an die Repräsentanten der Familien überreicht. Auch die fünf internationalen Beobachter, darunter Vertreterinnen aus Deutschland von Attac und Pax Christi, erhalten eine Ausfertigung.

Die Verurteilung durch ein Meinungstribunal, die in der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung Tradition hat, ist mehr als eine Geste. Sie steht für den Erfolg eines sozialen Prozesses, in dem es gelungen ist, der Repression und Gewalt, die den sozialen Bewegungen entgegen schlug, mit einer widerständigen solidarischen Organisierung zu begegnen. Die individuelle Trauer der Familien hat Platz in einer kollektiven Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit gefunden, die sowohl Trost und Unterstützung spendet als auch die politische Dimension klar benennt und kritisiert.

Die aufrichtige Verbundenheit zwischen den betroffenen Familien aus Siloé mit ihren Mitstreiter*innen ist heute spürbar. Hand in Hand stehen Angehörige, die Jury, die internationalen Besucher*innen und alle Gäste zum Abschluss auf, es wird zusammen gesungen. Es ist Italia Pérez, die zuerst den Namen ihres Sohns in den Saal ruft. »Presente! Presente! Presente!«, ist die laute Antwort des Publikums. Viele weitere Namen folgen. Auf die Frage, wie es nun weitergeht, was ihre Hoffnungen für die Zukunft sind, zeigt Italia schlicht auf ein Transparent, das mit Handabdrücken von Kindern und kleinen Herzen verziert ist. »Nunca mas« steht dort – keine weiteren Opfer mehr.

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