Stark engagiert, aber nicht unumstritten

Tilman Zülch, Gründer und Leiter der Gesellschaft für bedrohte Völker, ist gestorben

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer früh am Tag im Göttinger Wald unterwegs war, hatte bis vor wenigen Jahren gute Chancen, Tilman Zülch beim Spazierengehen zu treffen. Beim morgendlichen Wandern legte er stets ein flottes Tempo vor. So handhabte er es auch jahrzehntelang als Gründer, Generalsekretär und starker Mann der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Zuletzt war Zülch krank. Am Freitag starb er im Alter von 83 Jahren. Ein »Visionär der Menschenrechtsarbeit« sei er gewesen, schreibt die GfBV in einem Nachruf.

Zülch wurde 1940 in Deutsch-Liebau (Libina) im Sudetenland geboren. Als Jugendlicher engagierte er sich in der Bündischen Jugend, als Politik- und Volkswirtschaftsstudent in Hamburg im Sozialdemokratischen Hochschulbund. Zu jener Zeit tobte in Ostnigeria, das sich als Republik Biafra für unabhängig erklärt hatte, ein blutiger Bürgerkrieg. Hunderttausende Menschen starben durch Bomben, an Hunger und Krankheiten. Weil Großbritannien das nigerianische Militär mit Waffen belieferte, besetzten Ende Juni 1968 Mitglieder des Komitees »Aktion Biafra-Hilfe« das britische Generalkonsulat in Hamburg. Einer der Aktivisten war Zülch.

Er baute das Biafra-Komitee bis 1970 zur GfbV aus. Sie hatte und hat den Anspruch, weltweit Menschenrechte ethnischer und religiöser Minderheiten zu schützen und durchzusetzen. Unterstützt von einer Handvoll ehrenamtlicher Helfer blieb Zülch zehn Jahre lang der einzige Vollzeitaktivist. Mit wenig Geld prangerte die GfbV in Flugblättern Gräuel in Afrika und Asien an. »Von strukturierter Arbeit konnte damals nicht die Rede sein«, meint die langjährige Redakteurin der GfbV-Zeitschrift »Pogrom«, Yvonne Bangert.

Mit Zülch an der Spitze und teilweise spektakulären Aktionen schafften es die Menschenrechtler immer wieder in die Schlagzeilen. 1988 deckten sie die Mitverantwortung deutscher Firmen beim Giftgaseinsatz gegen Kurden im Irak auf. 1992, im sogenannten Kolumbus-Jahr, überquerten zwei GfbV-Aktivisten mit einem Bambusfloß den Atlantik, um den indigenen Völkern Südamerikas eine Versöhnungsbotschaft zu überbringen. Unter dem Motto »Auf keinem Auge blind« setzt sich die Menschenrechtsorganisation für Völkermordopfer im Sudan und muslimische Uiguren in China, für bedrängte Christen in Pakistan und für Kurden in der Türkei ein.

Doch es gab immer wieder auch Kritik. Als die GfbV Indigene aus Nicaragua nach Europa einlud, die gemeinsam mit rechtsgerichteten »Contras« die sandinistische Befreiungsfront FSLN bekämpften, protestierten Dritte-Welt-Gruppen. Im Jugoslawien-Krieg monierten Friedensinitiativen ein einseitiges und polarisierendes Engagement der GfbV: Frühzeitig habe sie die Serben als Alleinschuldige gebrandmarkt und Militärschläge der Nato zugunsten der bosnischen Muslime und Kosovo-Albaner gefordert. Zülch hielt seinen Kritikern entgegen: »Ihr seid auf einem Auge blind. Wir schwimmen auch künftig konsequent und ideologisch unabhängig gegen den Strom.« Journalisten, die kritische Texte über die GfbV schrieben, zitierte Zülch schon mal zur Anhörung in die Geschäftsstelle.

Auch innerhalb der Organisation war Zülch nicht unumstritten. Intern beklagten Mitarbeiter und ehrenamtliche Vorstandsmitglieder gelegentlich sein autoritäres Regiment. 2012 gipfelte ein Streit über angeblich nicht belegte Zuweisungen und zu Unrecht bezogene Gehälter in Strafanzeigen und dem Ausschluss von zwei Vorständen. Im Frühjahr 2017 gab Zülch die Leitung der GfbV ab.

Simon Wiesenthal schrieb 1999 an Zülch, dieser und seine Organisation seien »allen Menschen, die sich bedroht fühlen, eine Anlaufstelle für Hilfe«, egal ob es sich um Gruppen oder Einzelne handle. Er sei froh, immer »auf Ihre Mitarbeit zählen zu können«.

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