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Konferenz Kapitalistische Moderne: Wir wollen die Welt zurück!

»Challenging Capitalist Modernity« befasst sich am kommenden Wochenende mit den Zerstörungspotenzialen von 500 Jahren Kapitalismus – und mit praktischen und theoretischen Gegenentwürfen

  • Fabian Priermeier
  • Lesedauer: 6 Min.
Der fossile Kapitalismus ist global: Ölförderung an der Grenze zu Rojava, der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien
Der fossile Kapitalismus ist global: Ölförderung an der Grenze zu Rojava, der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien

Für einen Menschen, der den Sinn seines Lebens begriffen hat, ist die Frage, wo er lebt, nicht länger ein Problem. Ein Leben in Lüge und Falschheit verliert seinen Sinn. … Wer jedoch einen guten Begriff von Wahrheit entwickelt, kann das Leben als Wunder wahrnehmen. … Wer dieses Geheimnis entdeckt, kann jedes Leben ertragen, selbst im Gefängnis.« Dieser Satz entstammt einem der ersten Texte, die Abdullah Öcalan nach seiner Inhaftierung im Jahr 1999 aufsetzte. Dieser fasst nicht nur die Grundlage seines mittlerweile 24 Jahre anhaltenden Widerstands in Isolation zusammen, sondern beschreibt die Herangehensweise der kurdischen Freiheitsbewegung im Allgemeinen.

Für eine Welt ohne Staaten

Öcalans Perspektive bringt die Analyse des kapitalistischen Systems, in dem wir leben, zusammen mit der Betrachtung der Menschheitsgeschichte aus der Perspektive der Unterdrückten. Auf dieser Basis versucht die kurdische Bewegung, eine neue politische Philosophie zu entwerfen: die demokratische Moderne. Dies ist selbstverständlich kein isoliert stattfindender Kampf. Antikapitalistische Denker*innen und soziale Bewegungen weltweit befassen sich mit der Frage, wie eine Welt jenseits von Staat, Macht und Gewalt aussehen kann. Um in einer globalisierten Welt Antworten auf die multiplen Krisen zu geben, ist ein gemeinsamer Diskurs unumgänglich. Fest steht dabei, dass das kapitalistische Modell an sich die eigentliche Krise ist – so sehr es sich auch zu ändern und anzupassen vermag, wird es über diese Tatsache nicht hinwegtäuschen können. Wir müssen lernen, zu verstehen, dass sich die globale Ordnung niemals von der Spitze aus verändern wird. Eine wirkliche Veränderung kann nur von der Basis, von den demokratischen Kräften von unten vollzogen werden.

Bereits drei Mal traten Aktivist*innen verschiedener sozialer Kämpfe aus der ganzen Welt für einen diesbezüglichen Austausch an der Hamburger Universität zusammen. Im Fokus stand jeweils ein spezifischer gesellschaftskritischer Ansatz, mit welchem die »Masken der kapitalistischen Moderne« analysiert werden sollen. Mit dieser Figur bezeichnet die kurdische Bewegung die – historisch im Wandel befindlichen – Organisationsmodelle von Herrschaft. Betrachtet wird allerdings immer auch der Widerstand, der sich dagegen entwickelt(e) und die alternativen Perspektiven, für die gekämpft wurde. Auf der ersten Konferenz im Jahr 2012 bildete der Aufbruch in Kurdistan selbst das Hauptthema: Die Revolution von Rojava, der heutigen Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens, die aus dem sogenannten Arabischen Frühling hervorging. Bei der darauffolgenden Konferenz 2015 wurde ein konkretes Gegenmodell zum Nationalstaat ins Zentrum der Diskussionen gerückt: der demokratische Konföderalismus als alternative Gesellschaftsform, basierend auf den Konzepten der Frauenbefreiung, Sozialer Ökologie und Basisdemokratie nach Abdullah Öcalan. 2017 folgte schließlich die Konferenz zur demokratischen Moderne als Alternative zum kapitalistischen Modell.

Bei allen drei Konferenzen wurde darauf geachtet, sich nicht auf eine Region oder eine Bewegung zu beschränken, sondern den globalen Austausch in den Vordergrund zu stellen. Das gilt auch für die diesjährige Konferenz mit dem Titel »Die kapitalistische Moderne herausfordern IV: Wir wollen unsere Welt zurück!«, die am kommenden Wochenende in Hamburg stattfinden wird. Wie in den Jahren zuvor werden Denker*innen und Vertreter*innen sozialer Bewegungen aus der gesamten Welt anwesend sein, unter anderem Harriet Friedman, Andrej Grubačić, John Holloway, Zozan Sima, Marichuy, Adriana Guzmán Arroyo, Maria Leusa Mundurukú und Ajay Kumar.

Ausgerichtet wird die Konferenz von dem »Network for an Alternative Quest«, einer Plattform verschiedenster Organisationen, die sich sowohl auf akademischer als auch auf politischer Ebene mit der »kurdischen Frage« und möglichen Antworten auseinandersetzen. Das Ziel der Plattform ist die Zusammenführung der Diskurse, Theorien und Praktiken von sozialen Bewegungen, die für eine befreite Welt kämpfen. Die Konferenz erstreckt sich insgesamt über drei Tage und umfasst mehrere verschiedene Themenblöcke.

Die kapitalistische Moderne

Am ersten Tag geht es um die aktuellen Ausformungen der 500-jährigen Geschichte der kapitalistischen Moderne. Öcalan unterteilt den Kapitalismus in drei Epochen: den handelsmonopolistischen Kapitalismus vor der Industrialisierung (ab dem 16. Jahrhundert), den Industrialismus (ab dem 18. Jahrhundert) und das Finanzzeitalter (seit Mitte des 20. Jahrhunderts). Gegenwärtig gleicht der Kapitalismus dem PKK-Gründer zufolge einem »Multizid-Regime«. Dieses Konzept beinhaltet unter anderem den Begriff des Ökozids, welcher die gezielte und strukturierte Ausbeutung und Zerstörung der Natur im Kapitalismus beschreibt sowie die Tendenz staatlicher Kräfte zur Nutzung von Naturkatastrophen für die Ausweitung der Kontrolle, Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen. Weiterhin wird es um die Phänomene der Femizide (systematische Tötungen von Frauen), Epistemizide (systematische Auslöschung von »nicht relevantem« Wissen) und Soziozide (systematische Vernichtung einer sozialen Schicht oder Klasse) gehen. Wir wollen uns hier mit den konkreten Weisen auseinandersetzen, in welchen die kapitalistische Moderne ein für Mensch und Natur gleichermaßen zerstörerisches System geschaffen hat.

Als direkte Antwort wird sich der zweite Konferenztag dem Widerstand gegen den Kapitalismus widmen: All dem, was zurückerobert werden muss, sowie dem Neuen, das sich bereits im Aufbau befindet. Neben der Diskussion über die Kraft und das Wirkungspotential von Kunst auf soziale Bewegungen wird insbesondere das Podium über autonome Bildung im Zentrum des Tages stehen. Darüber hinaus werden zwanzig Workshops von internationalen Aktivist*innen angeboten, die sich mit verschiedensten Aspekten sozialer Bewegungen im Kampf für eine andere Welt befassen. Neben der Auseinandersetzung mit demokratischen Medien finden unter anderem Workshops zu Theater, Kunst, Selbstverteidigung sowie zur theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit Geschichte statt.

Im Zentrum des letzten Tages der Konferenz steht die Forderung »Wir wollen unsere Welt zurück«. Hier werden sich Referent*innen und Zuhörer*innen auf die Suche nach Antworten auf die Fragen »Wie leben?« und »Was tun?« begeben. Insgesamt sind für den Tag zwei Podien geplant: Auf dem ersten wird die Organisierungsperspektive diskutiert. Dabei wird das Konzept »Xwebûn« – auf Deutsch übersetzbar als Selbst-Sein – der kurdischen Frauenbewegung im Vordergrund stehen. Das zweite und abschließende Podium wird sich um den Aufbau eines globalen demokratischen Konföderalismus von unten drehen, dem zentralen Thema der ersten Konferenz im Jahr 2012.

Für einen neuen Internationalismus

Die Konferenz soll den Raum schaffen, um Analysen zu vertiefen und verschiedene Diskussionen miteinander zu verknüpfen. Aber darauf beschränkt sich unser Anliegen nicht. Vielmehr geht es um den Aufbau eines modernen Internationalismus, bei dem es vor allem auf das ankommt, was praktisch entsteht. Die Konferenz will sich der schwierigen Aufgabe stellen, konkrete Perspektiven und Handlungsansätze zu entwickeln, die über die drei Tage in Hamburg hinaus Bestand haben sollen. In Fortsetzung der vergangenen drei Konferenzen soll versucht werden, den Rissen im kapitalistischen System größere Wirkmächtigkeit zu verleihen, welche durch die Kämpfe von Menschen in Nord- und Ostsyrien, in Mexiko, bei den Zapatistas, im Widerstand der indigenen Völker in Abya Yala und den feministischen Bewegungen in Asien, Indien, Afghanistan, Kurdistan und Iran verursacht werden. Die Konferenz soll eine Hoffnungsperspektive anbieten – wir selbst können darüber entscheiden, wie wir leben werden. Gerade jetzt, in Zeiten, in denen ein Dritter Weltkrieg immer denkbarer zu werden scheint, wollen wir uns vor Augen führen, dass unser Schicksal in unseren eigenen Händen liegt.

Die Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern IV: Wir wollen unsere Welt zurück!« findet vom 7. bis zum 9. April 2023 im Audimax der Universität in Hamburg statt. Der AStA der Universität ist Mitveranstalter. Alle Redebeiträge werden simultan in Deutsch, Englisch, Italienisch, Kurdisch, Spanisch und Türkisch übersetzt. Weitere Informationen und das Anmeldungsformular finden sich unter www.networkaq.net. Die Beiträge der drei bisherigen Konferenzen sind jeweils in Buchform verarbeitet worden und ebenfalls auf der Website frei verfügbar.
Fabian Priermeier ist Mitarbeiter beim kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad und Mitorganisator der Konferenz.

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