VW do Brasil: Arbeiter in Schuldknechtschaft gehalten

Ricardo Rezende Figueira kämpft seit Jahrzehnten gegen Menschenrechtsverletzungen und fordert VW zu einer Geste der Wiedergutmachung auf

  • Interview: Niklas Franzen
  • Lesedauer: 4 Min.

Am vergangenen Mittwoch hat Volkswagen beschlossen, keine Einigung mit der Staatsanwaltschaft des Arbeitsgerichts wegen möglicher Sklavenarbeit auf der Farm Vale do Rio Cristalinoim Bundesstaat Parázu suchen. Hat Sie diese Entscheidung überrascht?

Ja, das hat sie. Für das Außenbild des Unternehmens wäre es klüger gewesen, einer Einigung zuzustimmen. VW wird nun eine schwere Last weiter mit sich herumtragen. Es ist unbestritten, dass Verbrechen verübt wurden. Das hat auch Christopher Kopper festgestellt.

Interview

Ricardo Rezende Figueira (71) ist Priester und arbeitet an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro als Professor für Menschenrechte und Anthropologie. Mit ihm sprach für »nd« Niklas Franzen.

Der von VW beauftragte Historiker, der die Verbrechen Volkswagens in Brasilien während der Diktatur aufarbeitete …

Kopper stellte in seinem Bericht fest, dass auf der Farm Schuldknechtschaft herrschte, Löhne nicht gezahlt wurden, Arbeiter bedroht und eingesperrt wurden. Nach allgemeiner Auffassung und dem internationalen Recht ist das als Sklavenarbeit zu betrachten. Die VW-Konzernleitung wusste darüber Bescheid. Volkswagen hat versucht, seine Verbrechen während der Nazizeit aufzuarbeiten. Das Gleiche muss das Unternehmen jetzt auch in Brasilien machen.

Für einen milliardenschweren Konzern wie VW sollten die geforderten Entschädigungszahlungen doch eigentlich zu verkraften sein, oder?

Das glaube ich auch. Die geforderten 160 Millionen Real (umgerechnet knapp 30 Millionen Euro, Anm. d. Red.), sind viel weniger als das, was das Unternehmen vom brasilianischen Staat, beispielsweise durch Steuererleichterungen, erhalten hat.

Will Volkswagen vielleicht einfach seine Reputation nicht weiter beschädigt sehen?

Das ist möglich. Kopper hat einen 600 Seiten langen Bericht vorgelegt. Es gibt genügend Beweise für Verbrechen. Und nun hat VW entschieden, keine Reparationszahlungen zu leisten. Das ist bitter. Es ist auch wichtig festzuhalten: Es gibt keine Summe, die das begangene Unrecht wiedergutmachen könnte. Kein Geld kann es wieder rückgängig machen, dass Menschen auf der Farm gequält wurden und zu Tode gekommen sind. Aber eine Geste der Wiedergutmachung wäre wichtig. Chiles Ex-Präsidentin Michelle Bachelet sagte einmal, keine Wunde könne heilen, wenn sie vorher nicht gewaschen werde. Deshalb muss der VW-Vorstand endlich die Verbrechen auf der Cristalino-Farm anerkennen.

Volkswagen sagt, sie seien nicht verantwortlich, weil die betroffenen Arbeiter nicht direkt bei ihnen angestellt gewesen seien.

Aus zwei Gründen hinkt diese Argumentation. Zum einen macht sich laut brasilianischem Recht auch derjenige mitschuldig, der bei einem Verbrechen nicht einschreitet. Die VW-Führung wusste von diesen und tat nichts dagegen. Zum anderen ist eine Firma laut Arbeitsrecht mitverantwortlich, wenn sie ein Vermittlerunternehmen einschaltet, wie es im Fall Vale do Rio Cristalino passiert ist.

Der ehemalige Leiter der Farm Friedrich Brüggersprach von Einzelfällen und sagte, dass alle Unternehmen in dieser Zeit so handelten.

Es waren keine Einzelfälle. Über zehn Jahre lang wurden schwere Verbrechen begangen – trotz unserer Anzeigen. Es ist richtig: Auch andere Firmen behandelten ihre Arbeiter so. 1983 waren wir auf der Farm und Brügger brüllte mich an: »Zeigt mir eine Farm hier in der Gegend, die anders handelt.« Ich konnte ihm keine Farm nennen. Aber die Verbrechen der anderen rechtfertigen nicht die eigenen Untaten.

Bereits 1983 zeigten Sie VW do Brasil wegen der Zustände auf der Cristalino-Farm an und traten damit den Fall los, der den Konzern bis heute beschäftigt. Wie hatten Sie davon erfahren?

Damals erhielt ich einen Anruf von der Landpastorale des Bundesstaates Mato Grosso. Sie informierten mich, dass sich vier Arbeiter bei ihnen aufhielten, die von der Cristalino-Farm im Nachbarstaat Pará fliehen konnten. Ich fuhr dorthin und hatte zum ersten Mal Kontakt mit geflüchteten Arbeitern. Es waren junge Männer, einer war gerade einmal 16 Jahre alt. Was sie uns erzählten, war der reine Horror: Sie wurden gequält, lebten in elenden Verhältnissen, es soll Morde gegeben haben. In den kommenden Monaten gelang es uns, mit immer mehr Opfern und Verwandten der Arbeiter zu sprechen, die uns ähnliche Geschichten erzählten.

Welche Auswirkungen hatte das auf das Leben der Arbeiter?

Seit Langem kümmere ich mich um Menschen, die aus Sklavenarbeit befreit wurden. Viele benötigen psychische oder psychiatrische Behandlung. Damals verstand ich die Dimension noch nicht, aber heute weiß ich, welche dramatischen Auswirkungen die Verbrechen auf die Arbeiter der Cristalino-Farm hatten und bis heute haben. Die Arbeiter hätten psychologische Behandlung gebraucht, haben aber keinerlei Unterstützung erhalten. Ein Problem war auch: Es war mitten während der Militärdiktatur. Wir konnten uns in keiner Weise auf Polizei, Justiz oder Medien verlassen.

Was fordern Sie nun?

Volkswagen muss alle Opfer entschädigen. Konkret geht es um 15 Opfer, aber es gibt sicherlich noch mehr. Ein weiteres Problem: Genaue Kenntnisse, wer dort gearbeitet hat, hat nur VW. Das Unternehmen hat aber nicht nur diesen Menschen Schaden zugefügt, sondern dem ganzen Land. Deshalb sollte VW auch Entschädigungen an Brasilien zahlen.

Es scheint allerdings, als wolle sich VW diesem dunklen Kapitel nicht stellen.

Ja, aber wir Aktivisten werden die Geschichte nicht vergessen. Wir werden weiter Druck machen.

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