Ukraine-Krieg: Ein möglicher Weg zum Frieden

Vorschlag für eine linke Position zur Beendigung des Ukraine-Krieges und für eine nachhaltige Friedensordnung

  • Michail Nelken
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Bewertung des Ukraine-Krieges und die Vorstellungen über seine Beendigung spalten die deutsche Gesellschaft und entzweien auch Die Linke. Wobei es nicht nur zwei Auffassungen zu beiden Problemkomplexen gibt, sondern die Meinungen breit gefächert sind. Die behauptete Spaltung in zwei Lager offenbart die politisch-ideologische Indienstnahme des Krieges für den gesellschaftlichen Kampf, der die deutsche Gesellschaft seit Jahren auseinander und gegeneinander treibt. Die vielfältigen Krisen der letzten Jahre haben diese divergierenden Tendenzen im politischen und kulturell-geistigen Leben polarisiert.

Diese Entwicklung erfasst auch Die Linke als Teil des gesellschaftlichen Diskurses. Der Beschluss des Bundesparteitages der Linken vom 27. Juni 2022 hat den innerparteilichen Streit nicht befriedet. Beunruhigend und nicht akzeptabel sind Intoleranz und Aggressivität, ideologische Denunziation und moralische Herabsetzung, die verbreitet die Debatten prägen, auch unter Linken. Gesinnungsbunker und Rechtgläubigkeit verbauen den Weg zu einer ergebnisoffenen rationalen Debatte mit Argumenten.

Befürworter*innen eines Verhandlungsweges zum Frieden wird vorgeworfen, sie würden die moralisch gebotene Solidarität mit den Ukrainer*innen aufkündigen und Teile des Landes über deren Köpfe hinweg an den Aggressor preisgeben wollen. Sie relativierten die Schuld Russlands und seien Handlanger*innen des Kremls. Befürworter*innen von Waffenlieferungen und eines militärischen Sieges der Ukraine über die russische Aggression wird vorgeworfen, sie seien Kriegstreiber, Verräter an den friedenspolitischen Grundsätzen der Linken, Lautsprecher des westlichen Imperialismus und der Interessen der Rüstungsindustrie.

Die Feststellung der zweifelsfreien Tatsache des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands und die Forderung des Rückzugs des Aggressors sowie der Anerkennung der territorialen Integrität der Ukraine, ansonsten Grundsatz linker Friedenspolitik, wird als antirussländisch und prowestlich verdächtigt. Die Analyse der von der US-Administration und den Nato-Verbündeten in den letzten zwei Jahrzehnten verfolgten, gegen Russland gerichteten geopolitischen Strategie und deren Folgen für die Spannungen im eurasischen Raum wird als Relativierung der russländischen Verantwortung, als »Täter-Opfer-Umkehr« und als traditionelles antiamerikanisches Narrativ der Linken gebrandmarkt.

Die Schützengräben in der Ukraine werden in die Debatte der deutschen Linken verlängert: Sag mir, auf welcher Seite du stehst. Damit wird der Weg zur Erarbeitung einer auf Erkenntnis und Wissen basierten Analyse und letztlich Politik der Linken blockiert. Diese Art der Debattenführung ist eine globale ideologische Tendenz zu arationaler Gesinnungsbeschwörung und identitärer Gemeinschaftsformierung, die die demokratische, liberale, tolerante Gesellschaft aushöhlt. Die »Zerstörung der Vernunft« ist der Weg in Autoritarismus, Nationalismus, Faschismus.

Ein Weg zum Frieden

1. Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine ist völkerrechtswidrig und muss sofort beendet werden. Er ist nicht zu rechtfertigen. Die Politik anderer Staaten oder Staatenbündnisse, die in den Augen der russischen Regierung die Interessen der Russischen Föderation verletzen, kann diesen Überfall nicht legitimieren. Interessengegensätze zwischen Staaten sind mit politischen Mitteln im Rahmen des Völkerrechts zu bewältigen. Die Anwendung von militärischer Gewalt zu deren Lösung zerstört die Grundlagen der menschlichen Zivilisation. Das gilt für alle Staaten in allen Regionen unseres Planeten.

2. Die territoriale Integrität der Ukraine ist wie die aller Staaten zu achten. Die Staatsgrenzen auf der Erde sind keine Naturphänomene, sondern in der Regel das Ergebnis von Macht, Gewalt und Krieg. Sie sind aber heute, gleich wie sie zustande kamen, ein substanzieller Ordnungsrahmen für das friedliche Zusammenleben der Weltgesellschaft. Auch wenn es das Ziel der Linken ist, den Grenzen die trennende Wirkung zu nehmen und sie in der Zukunft wieder zum Verschwinden zu bringen, werden wir nicht akzeptieren, dass sie einseitig willkürlich mit militärischer Gewalt verändert werden. Das gilt für die Grenzen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine wie für alle Staatengrenzen auf der Welt. Die internationale Staatengemeinschaft darf die Veränderung der Grenzen durch Krieg und militärische Gewaltakte völkerrechtlich nicht akzeptieren und muss derartige Gewaltakte gemeinsam sanktionieren.

3. Die Politik aller Länder muss auf einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand in der Ukraine hinwirken. Alle Staaten und internationalen Organisationen sollen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel der Politik einsetzen, um die Russische Föderation und die Ukraine zu einem Stopp der Kampfhandlungen zu bewegen. Die Einhaltung des Waffenstillstands ist durch eine von den Kriegsparteien akzeptierte UN-Mission auf der gesamten Frontlänge zu überwachen. Zur Entspannung und Vertrauensbildung sind die Kampfverbände der Kriegsparteien von der Waffenstillstandslinie auf einen vereinbarten Sicherheitsabstand zurückzuziehen.

Die Tatsache, dass die Russische Föderation einen Angriffskrieg und die Ukraine einen Verteidigungskrieg führt, ändert nichts daran, dass nur beide Seiten gemeinsam ein Ende des Krieges und einen gerechten Frieden herbeiführen können. Auf dem Verhandlungsweg zu einem umfassenden Waffenstillstand sind lokale Waffenstillstands- und Sicherheitsvereinbarungen geeignete Schritte, um behutsam Vertrauen zwischen den Kriegsparteien aufzubauen.

4. Die Waffenhilfe für die Kriegsparteien von Seiten Dritter ist umgehend auf ein Maß und eine Qualität zu begrenzen, die geeignet sind, den legitimen Verteidigungsinteressen beider Seiten zu dienen. Sie dürfen den Waffenstillstandsprozess und die Friedensverhandlungen nicht konterkarieren sowie eine Fortsetzung des Krieges, seine Eskalation und Ausweitung nicht befördern oder unterstützen. Der Frieden ist nur durch Abrüstung zu erreichen.

5. Der Weg zu einem dauerhaften und gerechten Frieden in der Region wird ein langer sein. Er bedarf vieler Zwischenschritte. Gegenseitiges Vertrauen und Respekt – durch das große Leid, Zigtausende Menschenopfer und Verwüstungen nachhaltig zerstört – müssen behutsam aufgebaut werden. Die anhaltende Besetzung ukrainischer Gebiete wie auch der schrittweise vollständige Rückzug der Armeen der Russischen Föderation aus diesen Gebieten werden mit Sicherheitsgarantien für die dort lebende Bevölkerung (inklusive Kombattanten, Kollaborateuren und Deserteuren) aller Ethnien und Staatsbürgerschaften verbunden, deren Einhaltung international überwacht wird.

6. Der Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine, der mit der militärischen Besetzung der Krim begann, geschah in einer geopolitischen Konfrontationslage, an deren Zustandekommen die Nato unter Führung der USA aktiv beteiligt war. Über das Maß der Verantwortung an dieser gefährlichen Entwicklung zu streiten, beendet den Krieg nicht. Die Nato-Staaten stehen heute in der Verantwortung, an einem gerechten und dauerhaften Frieden zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine aktiv mitzuwirken. Sie sind verpflichtet, alle ihnen zur Verfügung stehenden politischen Mittel zu nutzen, um eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu schaffen, die es nur unter Einschluss der Russischen Föderation, der Ukraine und aller anderen Staaten in der eurasischen Region geben kann.

7. Eine umfassende europäische Friedensordnung unter Einschluss der Russischen Föderation und eine umfassende Abrüstung setzen Europa und die Welt erst in die Lage, die globalen Herausforderungen der Schaffung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, des Schutzes des Weltklimas und der natürlichen Umwelt zu bewältigen.

Fußnoten

1) Dieser Text setzt auf den Grundsätzen des Beschlusses des Erfurter Parteitages der Linken vom 27. Juni 2022 auf und stellt einen praktischen politischen Vorschlag zur Beendigung des Ukraine-Krieges und für einen Weg zum Frieden zur Diskussion.

2) Der Einwand, dies sei ein unrealistischer Plan, weil die unmittelbaren Kriegsparteien dem entgegenstehende Kriegsziele verfolgten und Russland die territoriale Integrität der Ukraine nicht akzeptieren würde, ist im Status quo gefangen. Politik setzt sich Ziele, die nur erreichbar sind, wenn die politischen und sozialen Verhältnisse dementsprechend verändert werden. Bei der Umsetzung politischer Ziele geht es in erster Linie um Interessen und Kräfteverhältnisse, um deren Ausgleich und Veränderung.

Der Weg des Krieges zur Erreichung der politischen Ziele ist nicht »realistischer«. Er erfordert analog eine Veränderung der politischen und militärischen Kräfteverhältnisse mit ebenso unsicherem Ausgang, aber mit einem absehbar großen Verlust an Menschenleben, enormen sozialen und ökologischen Verwüstungen und dem Risiko eines kriegerischen Flächenbrandes. Der vorgeschlagene Weg ist keine Lösung für die Interessenwidersprüche und den Konflikt zwischen der Russischen Föderation einerseits und der Ukraine und der Nato anderseits, er sucht die Austragung dieses Konflikts aus der Sackgasse der militärischen Logik in die Bahnen von Politik und Diplomatie zurückzuholen.

3) Stellen begrenzte Waffenlieferungen während des Waffenstillstands eine Absage an das Prinzip »Frieden schaffen ohne Waffen« dar und erhöhen das Risiko einer Wiederaufnahme der Kriegshandlungen? – Die begrenzten Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden, sondern sollen den Waffenstillstand ermöglichen. Die Kriegsparteien werden unvermeidlich die Waffenruhe nutzen, um ihre ausgezehrte militärische Schlagkraft wieder aufzubessern, um für den Fall des Scheiterns des Friedensprozesses und eines Wiederaufflammens der Kampfhandlungen gerüstet zu sein. Die Ukraine verfügt nicht über die Ressourcen der Waffenproduktion wie die Russische Föderation. Sie ist für eine analoge Konsolidierung ihrer Bewaffnung auf die Waffenhilfe von Dritten angewiesen. Diese Tatsache könnte einen ernsthaften Hinderungsgrund für die Ukraine darstellen, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Einen dauerhaften gerechten Frieden wird es nur mit Abrüstung, der Einstellung von Waffenlieferungen und bei starken Sicherheitsgarantien für die Ukraine sowie Respekt für die Interessen der Russischen Föderation geben.

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