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Tehching Hsieh und Gerhard Richter: Käfig und Salon

Die Neue Nationalgalerie Berlin zeigt zwei Künstler, die es mit der Sinnlosigkeit der Welt aufnehmen wollen: Tehching Hsieh und Gerhard Richter

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Theoretiker Cornelius Castoriadis erklärte, die kapitalistischen Gesellschaften produzierten schon seit geraumer Zeit keinen Sinn mehr. Was bleibt da der Kunst übrig, die doch als Rechtsnachfolgerin des Kults lange Zeit für Sinn gesorgt hat? Soll sie dieses aussichtslose Unterfangen wieder aufnehmen? Oder soll sie feierlich ins Nichts des Ganzen eingehen? Zwei Künstler, die gerade in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin ausstellen, geben darauf unterschiedliche Antworten: Tehching Hsieh und Gerhard Richter.

Etwas vereinfacht gesagt, fällt die Antwort von Hsieh proletarisch, die von Richter bürgerlich aus. Hsieh stammt aus Taiwan, was Klaus Biesenbach, Direktor der Nationalgalerie und neben Lisa Botti Kurator der Hsieh-Ausstellung, dick unterstreicht, denn Taiwan bedeute »Freiheit und Demokratie«. Soll hier schonmal die Sinnattrappe für den nächsten Krieg geformt werden? Wichtiger an Hsieh scheint, dass er seit 1974 im Land von »Freedom and Democracy«, nämlich in den USA, lebt, und zwar erst ganze 14 Jahre lang als Illegaler, ständig in der Furcht, abgeschoben zu werden. Er arbeitete als Tellerwäscher und Putzmann. Und aus beidem, aus Migrantenexistenz und Maloche, entwickelte er seine Langzeitperformances.

Für die erste (1978/79) hauste er ein ganzes Jahr lang in einem Holzkäfig. Bei der zweiten – die in der Nationalgalerie dokumentiert ist – führte er, wiederum für ein Jahr, ein Leben nach Stechuhr. Alle Stunde nahm er ein Foto von sich auf, was auch heißt, dass er zwölf Monate lang nicht durchschlafen konnte. Für eine dritte Performance (1983/84) verpflichtete er sich zu einem Jahr im Freien. Das ging leider nicht ganz auf, weil ihn die Polizei verhaftete und in eine Zelle steckte. Und schließlich fesselte ihn 1983/84 ein Seil an die Künstlerin Linda Montana. Die beiden durften sich nicht berühren, aber waren gezwungen, ein Jahr lang die intime Nähe des andern zu ertragen, was zu heftigen Spannungen führte.

Hsieh wiederholt in seinen Performances das sinnlose Leben der vielen, die auf Gedeih und Verderb mit einer anderen Person (meist einer ganzen Familie), eingepfercht in winzige Wohnungen, ihre leere Zeit nach Stechuhr einteilen. Lediglich zwei Veränderungen trennen seine Aktionen vom proletarischen Leben der meisten: Erstens spitzt er die Bedingungen extrem zu, zweitens spart er die Arbeit selbst aus, die zwar kaputt macht, aber auch ablenkt. Andere Ablenkungen, Bücher, Fernseher und so weiter, versagt er sich sowieso, und das mag ein dritter Unterschied sein. Hsiehs Reaktion auf die Sinnlosigkeit besteht darin, sie spüren zu lassen. Sie ist merkwürdigerweise besser zu ertragen, wenn sie weh tut.

Richter dagegen lackiert die Leere. Die Nationalgalerie zeigt 100 seiner Werke als Dauerleihgabe. Für Richters smarten Nihilismus stehen etwa die »4900 Farben« von 2007, die auf die Farbtafeln der 60er Jahre zurückgehen und einen Vorläufer in den »1024 Farben« von 1974 haben. Die Farben entstammen direkt dem Fabrikprospekt, werden per Zufallsprinzip gewählt und permutiert, dann mit Rollen aufgetragen. Sinnlosigkeit lässt sich hier mit Äußerlichkeit und Mechanik übersetzen. Doch der so programmierte Zufall erzeugt bunte Flächen, die sich kein Zahnarzt für sein Wartezimmer entgehen ließe. Auch Richters »Strips« (2013/2016), von denen ein gigantisches Exemplar zu sehen ist, beziehen Zufallsprozesse ein. Es sind Inkjet-Drucke von feinen Horizontalstreifen; als Ausgangsmaterial dient ein abstraktes Gemälde, das ein Computerprogramm in Zeilen zerlegte.

Das Ergebnis ist jeweils ein Paradox: beabsichtigte Beliebigkeit. Immerhin ist ein Gran Kritik beigemengt. Das lässt sich an »Schwarz, Rot, Gold« (1999) studieren. Die drei Farbflächen ergeben zwar die Flagge, aber sind wie die Kacheln der »4900 Farben« vertikal geordnet und von Sinn und Sinnlichkeit vollständig entleert. Es ist, als sagte ein Roboter das Deutschlandlied auf. Nebenan tritt wieder einmal Richters »Onkel Rudi« (1965) in Wehrmachtsuniform an, zu sehen ist aber auch »Tante Marianne« (1965), die dem »Euthanasie«-Programm der Nazis zum Opfer fiel.

Im Zentrum steht der »Birkenau«-Zyklus (2014), Übermalungen der vier Fotografien, die Alberto Errera, ein jüdischer Partisan, im August 1944 am Krematorium V in Auschwitz-Birkenau von ins Gas Getriebenen und einer Leichenverbrennung anfertigte. Er wurde kurz später bei einem Fluchtversuch ermordet. (Die beste Recherche zu seinen und anderen Häftlingsfotos bieten Christophe Cognets Buch »Éclats« von 2019 und sein Film »Blinden Schrittes« von 2021). Ich gestehe, dass ich zu diesem Zyklus am liebsten gar nichts sagte, denn als ich es einmal getan habe, beschwerte sich ein KZ-Überlebender bitter bei mir: Richter habe sich, bevor er Ausschnitte aus »Birkenau« verschiedenen KZ-Erinnerungen (der Sammlung »Mit meiner Vergangenheit lebe ich«, 2016) zugeordnet habe, sie erst geduldig angehört.

Die gute Absicht soll nicht bestritten sein. Aber vom Grauen bleibt im »Birkenau«-Raum übrig, dass es einerseits nicht darstellbar ist, andererseits aussehen soll wie schmutzige Erde. Neben den Gemälden sind Reproduktionen von Erreras Fotos, ihnen direkt gegenüber Tafeln aus der Reihe der »Spiegel«-Bilder platziert, sodass sich ein jeder, eine jede ob als Täter, ob als Opfer ins verdeckte KZ projizieren kann. (Ich habe es nicht getan.) Weil in der Nationalgalerie, dieser monumentalen Fehlplanung Mies van der Rohes, die Decke niedrig hängt, kommt man sich bei Gerhard Richter vor wie im Salon von Familie Mustermann. Es ist eine Familie, die, aber so kühl wie möglich, patriotisch flaggt, pflichtschuldig an Täter und Opfer erinnert und ihre eigene Leere unter Lack legt. Und irgendwie ist einem da sogar in Tehching Hsiehs Käfig wohler.

»Gerhard Richter: 100 Werke für Berlin«, bis 2026, und »Tehching Hsieh«, bis zum 30. Juli 2023, Neue Nationalgalerie, Berlin

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