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Groß Fredenwalde: Archäologische Schätze vom Weinberg

Mittelsteinzeitliche Gräber geben Auskunft über Lebensweise, Ernährung und Bestattungsriten

  • Ronald Sprafke
  • Lesedauer: 8 Min.
Das wahrscheinlich weibliche Skelett aus der hockenden Bestattung ist nun teilweise freigelegt.
Das wahrscheinlich weibliche Skelett aus der hockenden Bestattung ist nun teilweise freigelegt.

Groß Fredenwalde ist eine kleine Gemeinde in der brandenburgischen Uckermark mit einem alten Weinberg. 60 Jahre archäologische, historische und naturwissenschaftliche Forschung haben hier spektakuläre Funde und überraschende Erkenntnisse über die steinzeitlichen Bewohner dieser Gegend gebracht. Und die Forschung ist noch lange nicht abgeschlossen.

Im Sommer 1962 sollte auf der Bergkuppe ein Holzturm gesetzt werden. Beim Ausheben der Baugrube stießen die Arbeiter auf Menschenknochen. Die Kriminalpolizei fühlte sich für den Fund nicht zuständig. Der Bodendenkmalpfleger Ulrich Schoknecht legte in den folgenden zwei Tagen unter Zeitdruck mehrere Bestattungen frei, barg die Skelette und die Beigaben. Der Holzturm wurde aufgestellt und es wurde ruhig um die Grabfunde, die man wegen der Beigaben in die Jungsteinzeit (Neolithikum) datierte. Erst 1992 ergaben Radiokarbonuntersuchungen ein viel höheres Alter. Die Funde gehörten in das 7. Jahrtausend v. Chr., in die Mittelsteinzeit (Mesolithikum).

2012 wurde es wieder unruhig auf dem Weinberg. Wegen der einst schwierigen Bergung wurde die alte Fundstelle neu untersucht und das Fundmaterial modernen Analysen unterzogen. Eigentlich bietet der »märkische Sand« keine guten Erhaltungsbedingungen für Knochen. Sie zerfallen spurlos oder hinterlassen nur dunkle Schatten im Sand. Da der Weinberg aber von kalksteinhaltigen Sedimenten durchzogen wird, sind hier die Skelette außergewöhnlich gut erhalten. In einem großen Puzzle gelang es der Anthropologin Bettina Jungklaus, zwei Männer und eine Frau im Alter von 30 bis 49 Jahren und drei Kinder im Alter von vier bis acht Jahren zu identifizieren. Die pathologischen Untersuchungen ergaben keine krankhaften Veränderungen und auch die kariesfreien Zähne bestätigten den guten Gesundheitszustand der Toten.

Zähne und Klingen als Beigaben

41 Hirschzähne hatte man 1962 neben den menschlichen Knochen geborgen, die meisten waren an der Wurzel durchbohrt. Mehrere lagen auf einem Schädel, andere im Bereich der Beine der Toten. Sie mögen Teil eines Stirnbandes gewesen sein oder als Aufnäher für eine Mütze und andere Kleidungsstücke gedient haben. Eine größere Anzahl von Feuersteinklingen hatte man ebenfalls bei den Toten ausgegraben. Ungewöhnlich war ein 12,7 Zentimeter langer Flintschneidendolch: In die Schmalseiten eines Mittelfußknochens vom Hirsch hatte man Längsrillen eingeschnitten und heute nicht mehr vorhandene Silexabschläge eingesetzt. Die Grabgruben und die Körper wiesen rote Farbspuren auf. Die Benutzung von Hämatit (Roteisenstein) zur Markierung von Gräbern und Körpern ist schon seit den Neandertalern bekannt, wohl als Symbol für Blut und Leben.

2012 wurden auch neue Gräber entdeckt. Da war zunächst die Bestattung eines Kleinkindes vermutlich im Alter von sechs bis zwölf Monaten. An anderer Stelle fanden die Ausgräber unter einer mit Holzkohle durchsetzten dunklen Sandschicht einen Toten, dessen Oberkörperknochen kreuz und quer durcheinander lagen. Der untere Teil aber steckte aufrechtstehend anatomisch korrekt im Boden. Offenbar war der Tote, ein 25 Jahre alter Mann, in einer 1,60 Meter tiefen Grube stehend an die Wand angelehnt worden. Dann wurde die Grube bis auf Kniehöhe verfüllt. Verbissspuren an zwei Armknochen zeigen, dass der übrige Körper offen stehen blieb. Später kippte der verwesende Oberkörper nach vorn. Erst als der Körper völlig zerfallen war, legte man zu dem Toten 30 Feuersteinartefakte, viele davon in die Nähe des Schädels, und schüttete die Grabgrube zu. Darüber wurde ein Feuer entzündet. »Aufrecht in die Ewigkeit« tauften die Ausgräber ihren Befund, der einmalig in Mitteleuropa ist. Außerdem konnte festgestellt werden, dass die Grube in ein älteres Kindergrab eingetieft worden war und dieses weitgehend zerstört hatte.

Die Frau muss viel gelaufen sein

2019 begann die vorerst letzte Forschungsetappe auf dem Weinberg. In einem zweijährigen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) umfangreich geförderten Projekt sollte die Ausdehnung des Gräberfeldes erfasst werden. Beteiligt sind die Universitäten Göttingen und Kiel, die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin und die Landesarchäologie Brandenburg (BLDAM). Ein Grab stach bei den Neufunden hervor: Eine erwachsene Person in hockender Haltung, der Kopf zwischen die Oberarme gesunken, die Beine stark angewinkelt. Da das Skelett vorzüglich erhalten ist, beschlossen die Ausgräber, das Grab als Ganzes mit dem umgebenden Erdreich »im Block« zu heben. Diese Grabungsmethode ermöglicht es, das Objekt im Labor detailliert und mit allen technischen Geräten zu untersuchen und zu dokumentieren, ohne Zeitdruck und Wetter ausgesetzt zu sein. Allerdings konnten Studierende der HTW unter Leitung von Professor Thomas Schenk aufgrund der Corona-Pandemie erst im Herbst 2022 beginnen, das Skelett freizupräparieren. Im Januar 2023 wurden erste Ergebnisse vorgestellt.

Zwei Drittel des Blockes sind nun abgetragen und der hockende Leichnam bis oberhalb des Beckens freigelegt. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Frau Anfang 20. Endgültig wird das Geschlecht aber erst nach der Freilegung des Beckens bestimmbar sein. Einkerbungen an den Schenkelknochen deuten auf starke Beinmuskeln hin. Die Frau muss viel gelaufen sein. Auf der Stirn lagen drei Tierzahnanhänger. Da keine Spuren von Fremdeinwirkung zu finden sind, bleibt die Todesursache unklar, vermutet wird eine Infektion. Von diesem aktuellen Bearbeitungszustand wurden hochauflösende 3D-Aufnahmen gemacht, aus denen, wenn der Rechner die riesige Datenflut aufbereitet hat, dann eine 3D-Nachbildung entsteht.

Aktuell sind zwölf Individuen aus den Gräbern vom Weinberg sicher identifiziert worden: Sieben Erwachsene und fünf Kinder. Das älteste Grab ist das des Babys (um 6400 v. Chr.). Die Gräber von 1962 und des Kleinkindes werden um 6000 v. Chr. datiert, auch die hockende Frau gehört in diese Zeit. Damit liegt hier der älteste und größte mittelsteinzeitliche Friedhof Deutschlands.

Die Höhe der in den Knochen und Zähnen abgelagerten Isotope mehrerer chemischer Elemente (13C; 15N) gibt Auskunft über die Ernährungslage und den Speisezettel der Menschen. Die hohen Werte des Stickstoffisotops bei allen erwachsenen Toten sprechen für eine proteinreiche Kost, bestehend aus dem Wild der umgebenden Laubwälder und den Fischen der nahen Seen, typisch für mesolithische Gruppen. Sie waren körperlich fit und dank ihrer Ernährung erstaunlich gesund. Sie konnten dadurch ein Alter von bis zu 50 Jahren erreichen. Die Isotopenwerte des Babys waren dagegen unerwartet: Kleinkinder unter einem Jahr werden mit Muttermilch ernährt, was den Stickstoffwert deutlich erhöht. Die untersuchte Babyprobe zeigt aber nur geringfügig erhöhte Stickstoffwerte. Wahrscheinlich wurde es nicht ausreichend gestillt oder schon sehr früh abgestillt. Eventuell war dies ein Grund für seinen frühen Tod.

Kaltphase vor 8200 Jahren

Die in Groß Fredenwalde Bestatteten lebten während einer Kaltphase in Mittel- und Nordeuropa, die vor rund 8200 Jahren einsetzte und etwa 150 Jahre anhielt. Klima- und Umweltuntersuchungen durch die Universitäten Kiel und Greifswald sollen nun die Lebensbedingungen der Menschen am Weinberg rekonstruieren. Die Deutung der durchbohrten Tierzähne, weitverbreitet in Gräbern dieser Zeit, als Besatz von Fellmützen und Winterbekleidung mag zwar möglich sein, bleibt aber noch spekulativ.

Die Grabbeigaben zeigen deutliche Einflüsse aus dem Norden. Die Feuersteinartefakte finden Parallelen an der norddeutschen Küste und in Südskandinavien. Für den Flintschneidendolch aus der Grabung von 1962 gibt es auch Vergleichsstücke aus dem Gebiet des heutigen Russlands.

Paläogenetische Untersuchungen können Auskunft geben zu Verwandtschaftsbeziehungen zwischen einzelnen Individuen, aber auch Aussagen treffen über Wanderbewegungen und Herkunftsorte der Untersuchten. Und sie liefern Aussagen über das Aussehen der Menschen. Die Bestatteten vom Weinberg waren zwar klein von Wuchs (Männer 1,61 m, Frauen 1,52 m), aber stämmig gebaut, robust und kerngesund. Vergleiche mit anderen Fundorten zeigen, dass diese Menschen zumeist eine dunkle Hautfarbe und helle Augen hatten.

Erste Zeichen der Sesshaftigkeit

Die Menschen von Groß Fredenwalde waren spätmesolithische Jäger, Sammler und Fischer, die auf ihren jahreszeitlichen Wanderungen durch die Landschaft zogen. Die Befunde zeigen aber, dass sie wohl schon sesshafter waren als bislang angenommen. Hinweise auf einen längeren Lagerplatz hat man hier nicht gefunden. Die zeitweiligen Siedlungen werden an den umliegenden Seeufern gelegen haben. Die Gemeinschaften haben bewusst einen markanten Ort ausgewählt, zu dem sie auf ihren Wanderungen zurückkehrten, um die Toten zu bestatten. Der 111 Meter hohe Berg, höchster Punkt im Umland, bot sich als Bezugspunkt an. Da die Gräber alle sehr dicht nebeneinander lagen, müssen sie oberirdisch durch heute nicht mehr nachweisbare steinerne oder hölzerne Hinweise markiert worden sein. Dieser Ort wurde für viele Generationen und über vier bis fünf Jahrhunderte als Bestattungsplatz genutzt. Nach 5900 v. Chr. bricht die Belegung ab.

Fragen wirft noch der aufrecht stehend begrabene Mann auf. Die Art der Bestattung hat in Mitteleuropa keine Parallelen. Mögliche Kontakte aus Osteuropa werden diskutiert. In den Gräberfeldern von Yuzhniy Oleniy Ostrov in Karelien und Zvejnieki im Norden Lettlands wurden Tote in ähnlicher Weise in die Grabgrube gestellt. Die Art der Bestattung mag den Eindruck erwecken, der Tote sei bestraft oder hingerichtet worden. Aber die zahlreichen Beigaben, besonders ein großes Feuersteinmesser, die beim Verschließen der Grube absichtlich dort platziert wurden, sprechen dagegen. Der Tote wurde nicht »an den Pranger gestellt«. Eine aktuelle Untersuchung zu den Bestattungsriten ist noch in Arbeit.

Nach einer Unterbrechung von 1000 Jahren wurde er den Radiokarbondaten zufolge hier um 4900 v. Chr. bestattet, ob zufällig oder gezielt an diesem herausragenden Ort, ist schwer zu entscheiden. Der frühere Begräbnisplatz war aber sicher nicht mehr bekannt. Denn sein Grab ist das Einzige am Ort, das ein älteres Begräbnis zerstörte.

Seine Gruppe lebte noch als Jäger und Sammler in der Gegend. Aber eine neue Zeit hatte sich schon angekündigt. Um 5200 v. Chr. waren aus dem Südosten neue Menschengruppen in das untere Odergebiet eingewandert. Sie brachten Ackerbau und Viehzucht mit, waren sesshaft und fertigten Keramik, die der Linienbandkeramik zugerechnet wird. Das Neolithikum (Jungsteinzeit) begann. So sind nur zehn Kilometer entfernt im Prenzlauer Gebiet frühe Bauerngruppen bekannt. Spätmesolithische und frühneolithische Gruppen haben sicherlich Kontakte zueinander gehabt, nebeneinander und miteinander gelebt. Anfang März stellten Forscher der Universität Tübingen in der Zeitschrift »Nature« eine Studie vor, die die Genome von 356 Individuen auswerteten, zu denen auch die Toten vom Weinberg gehörten. Die Paläogenetiker fanden auch heraus, dass es zwischen dem aufrecht stehenden Mann und den benachbarten Bauerngruppen keine genetische Vermischung gegeben hat.

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