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  • »Kreolische Konstellationen«

Koloniale Herrschaft: Hoffnung im Dazwischen

Wie hat sich imperialistische Herrschaft gewandelt und welche Widerstände bringt sie hervor? Ein Sammelband sucht nach »kreolischen Konstellationen«

  • Johannes Tesfai
  • Lesedauer: 7 Min.

Herrschaft war nie nur eine einseitige Beziehung, sondern hat immer auch Widerstände produziert, etwas, das dazwischen lag und über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen könnte. Im Zuge des Kolonialismus und dem Handel mit Versklavten in den Amerikas etwa entstanden Mischkulturen, die als kreolisch bezeichnet wurden. Es sind oft die Kinder aus Verbindungen weißer Kolonisatoren und Schwarzer Versklavter, die Träger dieser Kultur waren. Politisch und kulturell beschrieb Kreolisierung damit die Entstehung eines dritten Pols, jenseits des hierarchischen Systems von Nord und Süd.

Die Gruppe jour fixe initiative berlin hat nun einen Sammelband vorgelegt, der sich »Kreolischen Konstellationen« widmet. Auch hier findet sich das mehrdeutige Wort kreolisch im Titel. Die Herausgeber*innen wollen die »binären Oppositionen« zwischen »Nord-Süd« unterwandern und ein »häretisches, vergessenes oder unterdrücktes Denken« zu etwas Neuem verbinden, das die bestehende Herrschaft überwindet. Es geht um nicht weniger als ein politisches Projekt, das die alten Kategorien von Kolonialismus, Imperialismus und Internationalismus in neue Beziehungen setzen will. Doch schafft der Sammelband wirklich kreolische Konstellationen?

Kartierung des Imperialismus

Einen guten Riecher für Themen hat der Berliner Kreis von Linksintellektuellen schon seit seinem Bestehen 1997 bewiesen. Regelmäßig organisierte die Initiative Veranstaltungsreihen zu Fragestellungen einer aktivistischen und intellektuellen Linken – und bürstete sie gegen den Strich. So erschien 2006 ein Buch mit dem Titel »Klassen und Kämpfe«, in einer Zeit als Klasse in der Linken sehr randständig diskutiert wurde. Die jour fixe initiative schaffte es mit diesem Band, das Konzept aus der soziologischen Theorie herauszuholen und wieder zu einer Kategorie der linken Theoriebildung, aber vor allem zum historischen Ort der Kämpfe zu machen. Die neue Welle des Antirassismus und der Geflüchtetenproteste haben die Fragen von Imperialismus und Internationalismus in der aktivistischen Linken wieder auf die Tagesordnung gesetzt, höchste Zeit also sich den Themen wieder theoretisch zu widmen.

Paul Dziedzic fragt in seinem Beitrag des aktuellen Bands nach der Aktualität des Imperialismus. Wenig überraschend findet er imperiale Politik in jedem Winkel der Erde, wenn auch in unterschiedlichen Formen. Zwar gäbe es noch den Imperialismus der Nachkriegszeit, der mit Weltbank und IWF Sparprogramme und Handelsbeziehungen erzwinge, sowie die wenig beachtete Vormachtstellung Frankreichs in Teilen Afrikas. Sie firmiert unter dem Namen »Francafrique« und zeichne sich durch einen besonders starken Zugriff französischer Unternehmen und staatlicher Stellen auf den afrikanischen Kontinent aus. Dziedzic weist aber auch auf neue Player im imperialistischen Spiel hin. Russlands Krieg in der Ukraine zeuge so etwa nicht nur von dessen neuem Selbstbewusstsein, sondern von anderen ideologischen Voraussetzungen eines geopolitischen Projekts. Ähnlich wie Russland ist auch China aufgrund der fehlenden kolonialen Vorgeschichte in afrikanischen Ländern weitaus willkommener als Europa. China gebe sich daher, wie Dziedzic schreibt, »auf dem afrikanischen Kontinent eher als friedliche Macht und Alternative zu den offen aggressiven westlichen Mächten«. Diese veränderte Konstellation in der Weltpolitik lässt den Autor nach neuen Verbindungen dagegen suchen, im Widerstand der Kurd*innen, im Kampf äthiopischer Bäuer*innen gegen indische Firmen sowie in den Landlosenbewegungen in Namibia oder Südamerika. Damit liefert der Autor eine Karte des gegenwärtigen Imperialismus.

Für ihren Beitrag zu »Globalem Antikolonialismus« hat die Schweizer Historikerin Brigitte Studer tief in den Archiven gesucht. Bereits 2020 hatte sie mit dem Buch »Reisende der Weltrevolution« eine fulminante Geschichte der Kommunistischen Internationale (Komintern) vorgelegt. Ihr Beitrag im Sammelband kreist um Manabendra Nath Roy, einen wichtigen Kader aus Indien, der die Politik der Komintern lange Zeit mitprägte. Spannend ist Studers Aufsatz vor allem, weil er auf die Herkunft vieler kommunistischer Politiker aus kolonisierten Ländern hinweist, die wie Roy, Aufbauarbeit im globalen Norden leisteten. So gründete dieser in den 1920er Jahren mit anderen die Kommunistische Partei Mexikos. Studer zeigt, dass Roy und andere antikoloniale Aktivist*innen innerhalb der Komintern gegen Lenin argumentierten, der darauf aus war, die Dekolonisierung im Bündnis mit Teilen des Bürgertums in den Kolonien voranzutreiben. Der Pfad, den Roy vorschlug, kann als eine Art kreolische Antwort auf die vielerorts ausbleibende Revolution während der Dekolonisierung verstanden werden. Oder, wie die Herausgeber*innen das Dilemma definieren: »Aller Siege der antikolonialen Befreiungskämpfe zum Trotz ist der Kolonialismus nicht beendet, die imperialistische Herrschaft dauert an.«

Antikoloniale Utopien

Elfriede Müller versucht sich an einer politischen Biografie des Schwarzen Kommunisten C.L.R. James. Der karibische Journalist und Theoretiker pendelte Zeit seines Lebens zwischen den Organisationen der Arbeiter*innenbewegung und panafrikanischen Gruppen, die theoretisch und praktisch die Dekolonisierung vorantreiben wollten. 1901 auf der Karibikinsel Trinidad geboren und 1989 in London gestorben, verdient wohl kaum ein Theoretiker und Aktivist mehr das Label kreolisch. Kürzlich wurde eine deutsche Neuübersetzung seines Hauptwerks »Die schwarzen Jakobiner« veröffentlicht, was ihn auch hierzulande wieder Aufmerksamkeit verschaffte. Mit dieser Studie über den Haitianischen Sklav*innenaufstand, der in einer Revolution mündete, schuf James zweifellos einen antirassistischen und proletarischen Gründungsmythos einer Schwarzen Arbeiter*innenbewegung, die sich in der Komintern, aber auch in den USA in den 1930er Jahren organisierte. Oft genug fiel sein Engagement für die kommunistische Weltbewegung und seine Arbeit für die Dekolonisierung aber auseinander. Zu Beginn waren organisierte Kommunist*innen und antikoloniale Aktivist*innen in den gleichen Gruppen aktiv, aber die vorsichtige außenpolitische Haltung der Sowjetunion und die Abkehr von der Linken vieler Schwarzer Aktivist*innen sorgten für Spaltung.

Sozialistischen Utopien während der afrikanischen Dekolonisierung spürt Maria Paula Meneses in ihrem Beitrag über die mosambikanische Unabhängigkeitsbewegung FRELIMO nach. Die Bewegung kämpfte einen Guerillakrieg gegen die portugiesische Militärdiktatur, die die Kolonie hielt. FRELIMO bezog sich, laut Meneses, nicht nur auf den damals in vielen antikolonialen Bewegungen vorherrschenden Marxismus-Leninismus, sondern argumentierte auch mit kollektiven Erfahrungen vorkolonialer Gesellschaften. Deren Ziel war demnach, die neue Gesellschaft nicht mit den Strukturen zu organisieren, die die Europäer mitgebracht hatten. Ein Problem, das bereits James aufgeworfen hatte, wie Elfriede Müller anführt. Demnach würden die politischen Krisen in den dekolonisierten Ländern oft mit ihrer Adaption der alten Kolonialverwaltung zusammenhängen. Meneses schreibt, dass es auch der mosambikanischen Befreiungsbewegung nicht gelang, ein neue Gesellschaft aufzubauen, der Staat wurde autoritär.

Zwischen Antisemitismus und Rassismus

Lutz Fiedler begibt sich daraufhin mit seinem Beitrag auf theoretisch umkämpftes Terrain. Er sucht nach den Verbindungen von Shoah-Erinnerung und antikolonialem Kampf undfindet eine solche in der Frantz-Fanon-Lektüre von Jean Améry. Der jüdische Essayist und Auschwitz-Überlebende gilt bis heute als eine Stimme, die kompromisslos das Leid der Überlebenden niederschrieb. Fiedler fördert Interessantes zu Tage, wenn er feststellt, dass Améry in Fanons Büchern eine ähnliche Erfahrung bei Kolonisierten fand. Es gebe eine Gemeinsamkeit von jüdischen Überlebenden und Kolonisierten über die Lektüre von Berichten aus dem Ghetto, die Améry als »Warteraum des Todes« bezeichnete, aber wieder verwarf. Fiedler meint, damit eine gescheiterte Kreolisierung im Nachdenken über die Shoah und die Gewalt des Kolonialismus gefunden zu haben.

Der wahrscheinlich klügste Beitrag des Bandes kommt von Stefan Vogt. Der Historiker versucht sich nicht in einem Vergleich antisemitischer und rassistischer Gewalt, sondern sucht nach Parallelen in deren Motiven. Er begibt sich dafür in die Pamphlete und Artikel des deutschen Kolonialismus und zeigt, dass der Vergleich zwischen Rassismus und Antisemitismus eine falsche Polarisierung fördert. Vogt will hingegen zeigen, wie die historische Rechte oft genug die Motive zwischen beiden Ideologien wandern lies. Etwa in der Idee einer deutschen Kolonisierung Osteuropas, bei der Jüdinnen und Juden für die Kolonisten ähnlich den Afrikaner*innen als rückständig galten. Der Antisemitismus argumentierte in diesem speziellen Fall wie der Kolonialrassismus.

Die spannendste These seines Beitrages ist allerdings, dass der Kolonialrassismus sich auch antisemitischer Motive bediente. 1914 versuchte die deutsche Kolonialverwaltung die Stadt Douala im heutigen Kamerun nach rassistischen Kriterien in eine Stadt für Deutsche und eine für Afrikaner*innen zu segregieren. Um dieses Ziel durchzusetzen, sollten viele Bewohner*innen umgesiedelt werden. Diese wehrten sich und suchten auch die deutsche Öffentlichkeit, um dagegen zu protestieren. Die öffentliche Kampagne der deutschen Regierung bemühte sich, die Protestierenden als Landspekulanten darzustellen, die von deutscher Arbeit leben würden – und belegten sie also mit antisemitischen Stereotypen.

Vogt ist mit seiner Analyse ein Stück kreolischer Theorie gelungen. Zwar kann daraus keine linke oder gar kreolische Politik abgeleitet werden, aber die aufgezeigten Verbindungen sind ein Ansatzpunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus. Insgesamt bietet der Band der jour fixe initiative einen aufschlussreichen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um Imperialismus und Internationalismus. Durch die unterschiedlichen Blickwinkel ist ein Panorama von Unterdrückung und Solidarität entstanden. So erscheint eine neue kreolische Perspektive als ein Hoffnungsschimmer angesichts der neuen imperialistischen Strategien und Politiken, auch wenn der Band diese selbst nur bedingt liefern kann.

jour fixe initiative berlin (Hg.): Kreolische Konstellationen. Kolonialismus – Imperialismus – Internationalismus. Edition Assemblage 2023, 168 S., br., 16 €.

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