Britisches Gesundheitssystem: Kaputtgespart und schlecht bezahlt

Der viertägige Ausstand der Assistenzärzte könnte einer der größten Streiks im britischen Gesundheitssystem werden

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Declan steht vor dem Krankenhaus von Lewisham im Südosten Londons und erzählt vom Stress und der tiefen Frustration seines Jobs. Seit vier Jahren arbeitet er hier als Assistenzarzt. Die Belastung sei stetig angestiegen, sagt der 30-Jährige, der nicht mit Nachnamen genannt werden will. »Oft sind wir auf unserer Station hoffnungslos unterbelegt, oder wir müssen einspringen in anderen Abteilungen, wo ebenfalls die Mitarbeiter fehlen.« Die miese Bezahlung stehe in keinem Verhältnis zu diesen Herausforderungen. Die Gewerkschaft British Medical Association (BMA) hat ausgerechnet, dass die Gehälter der Assistenzärzte seit dem Jahr 2008 inflationsbereinigt um mehr als ein Viertel gesunken sind.

Declan ist einer von über 40 000 Assistenzärzt*innen in England, die am Dienstag einen viertägigen Streik für bessere Bezahlung begonnen haben. Die Assistenzärzte – sogenannte Junior Doctors – machen etwa 40 Prozent der medizinischen Belegschaft im staatlichen Gesundheitsdienst NHS aus. Der Name ist etwas irreführend, denn die meisten haben jahrelange Erfahrung. In der Regel arbeiten Ärzte etwa zehn Jahre lang als Junior Doctor, bevor sie zum Consultant befördert werden, was in etwa einem Chefarzt entspricht.

Im ersten Jahr verdient ein Assistenzarzt rund 29 000 Pfund an Grundgehalt. Die streikenden Ärzte fordern deutlich mehr: Sie wollen eine Gehaltserhöhung von 35 Prozent. Die Regierung sagt, das sei unerschwinglich. Sie hat Lohnverhandlungen bislang abgelehnt.

Der derzeitige Streik dürfte einer der folgenreichsten in der 75-jährigen Geschichte des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS sein: In den kommenden Tagen werden rund 350 000 Arzttermine und Operationen gestrichen, so schätzt der Dachverband NHS Confederation. Gesundheitsminister Steve Barclay wirft der Gewerkschaft BMA vor, die Sicherheit der Patienten zu gefährden.

Solche Aussagen sorgen bei den Assistenzärzten für große Verärgerung. »Die Regierung weiß seit vielen Wochen, dass wir streiken werden, aber sie hat überhaupt nichts getan, um auf uns zuzugehen und zu einer Einigung zu kommen«, sagt Declan. Auch seien nicht die Ärzte dafür verantwortlich, dass die Sicherheit der Patienten gefährdet sei, sondern die jahrelange Unterfinanzierung des staatlichen Gesundheitssystems sei die Ursache.

Die Streikenden betonen, dass es ihnen nicht nur um die eigene Bezahlung gehe, sondern um das gesamte Gesundheitssystem: Bessere Gehälter seien entscheidend, um die nötigen Mitarbeiter zu rekrutieren und zu halten. Das sagt auch Tony O’Sullivan, der an diesem Morgen ebenfalls am Streikposten in Lewisham steht. Der 71-Jährige ist Ko-Vorsitzender der Kampagne Keep Our NHS Public, die sich gegen die Privatisierung des staatlichen Gesundheitssystems einsetzt. »Als die konservative Regierung 2010 antrat, hat sie sich umgehend daran gemacht, im NHS Geld zu sparen, unter anderem indem sie die Löhne der Mitarbeiter gekürzt hat«, sagt O’Sullivan. Das sei der Grund für die Überlastung im NHS: Weil die Gehälter laufend schrumpften, verließen die Ärzte den NHS scharenweise.

»Ein neu qualifizierter Junior Doctor verdient umgerechnet einen Stundenlohn von 14 Pfund. Man kann mehr verdienen, wenn man im Supermarkt oder in der Gastronomie arbeitet«, erzählt O’Sullivan. Viele sind deshalb gezwungen, entweder ihr Gehalt durch die Behandlung von Privatpatienten aufzubessern – oder auszuwandern. Solche Entwicklungen haben zu einem schweren Personalmangel im gesamten NHS geführt. Laut dem gesundheitspolitischen Thinktank Nuffield Trust fehlen in England fast 9000 Ärzte. Insgesamt sind im NHS über 130 000 Stellen unbesetzt.

Viele Experten befürchten, dass der gesamte Gesundheitsdienst kurz vor dem Zusammenbruch steht. »Bis 2010 hatte der NHS genug Geld, die Leute wurden relativ schnell behandelt«, sagt O’Sullivan. Aber in den folgenden Jahren sei die Belastung sukzessive gestiegen. »Seit 2015 ist der NHS praktisch in einer Dauerkrise. Die Zielvorgabe, dass der Großteil der Patienten in der Notaufnahme höchstens vier Stunden wartet, wurde zuletzt in jenem Jahr erreicht.« Die Pandemie habe diese Krise noch einmal verschärft, sagt O‹Sullivan.

Die Gespräche vor dem Krankenhaus im Londoner Stadtteil Lewisham werden immer wieder unterbrochen, weil vorbeifahrende Auto- und Busfahrer hupend ihre Unterstützung zeigen. Am Dienstagmorgen wurde eine neue Umfrage veröffentlicht, die zeigt, dass dies die allgemeine Stimmung im Land wiedergibt: 54 Prozent der Briten stehen hinter dem Streik, 26 Prozent sind dagegen. Seit März hat die Unterstützung für die Junior Doctors sogar um drei Prozent zugenommen.

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