Chancengleichheit: Egalitäre Schockstrategie

Cesar Rendueles gleicht in seinem Essay »Gegen Chancengleichheit« die neoliberale Ideologie mit der kapitalistischen Wirklichkeit ab

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 6 Min.
Der schöne Schein der Gleichheit: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Und wie geht es dann weiter?
Der schöne Schein der Gleichheit: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Und wie geht es dann weiter?

Alle Menschen sind gleich. Dieser Satz, den auch Voltaire einst schon niederschrieb, kommt einem als politische Forderung ebenso bedeutsam vor, wie er auch ungemein banal klingt. Unser Grundgesetz schränkt das schon konkret ein und formuliert es so: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«

Also gibt es doch Unterschiede, meist sind es ökonomische, aber es erzeugen neben Klasse auch Geschlecht und Herkunft deutliche Ungleichheiten zwischen den Menschen und den Möglichkeiten, über ihre Lebensumstände zu bestimmen. Genannt seien als Beispiele nur der Klimawandel und der Zwang vor Krieg, Hunger und Perspektivlosigkeit zu fliehen, weshalb vor allem die geografische Herkunft deutliche Unterschiede zwischen den Menschen macht.

Dennoch ist die Idee, dass alle Menschen gleich seien, vor allem für den liberalen Menschenrechtsdiskurs ein basaler Grundgedanke. Nur, kann es sein, dass wir eigentlich in ziemlich nicht-egalitären Zeiten leben? Zeiten, in denen die sozialen Unterschiede immer größer werden und die immer wieder postulierte Idee einer unverrückbaren Gleichheit aller Menschen längst Teil einer Herrschaftsideologie ist, die soziale Unterschiede sogar weniger sichtbar macht? So argumentiert zumindest der spanische Soziologe Cesar Rendueles, dessen neues, wieder von Raul Zelik ins Deutsche übersetzte Buch »Gegen Chancengleichheit – Ein egalitaristisches Pamphlet« einen radikalen egalitären Wandel einfordert und der Frage nachgeht, wie weit wir eigentlich von der so oft beschworenen Gleichheit entfernt sind.

»Die Ungleichheit ist uns in die Knochen gekrochen und hat unsere Wahrnehmung der Welt transformiert«, so der 1975 geborene und in Madrid lebende Rendueles, der in der asturischen Industriestadt Gijon aufgewachsen ist und in dem gut 300-seitigen Essay auch immer wieder mitunter recht lebendig Anekdoten aus seiner Jugend und persönliche Erfahrungen einstreut. Denn im Zuge des neoliberalen Wandels und der Deindustrialisierung, wie sie auch Asturien in den 1980er Jahren erlebte, waren laut Rendueles »Barrikaden und Straßenkämpfe zwischen Arbeitern und Polizei praktisch an der Tagesordnung«. Nur wurden diese Konflikte in Spanien damals als »normal« wahrgenommen und nicht wie heute als extremistische Gefährdung eingestuft. »Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass eine Barrikade den Auftakt zu Terrorismus und Chaos darstellt«, so der Soziologe.

An dieser Einstellung hat sich ganz Grundsätzliches verändert. Das hat auch mit den großen Niederlagen der Gewerkschaften in den hart umkämpften 1980er Jahren in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA mit der Administration Ronald Reagans zu tun. Es sagt aber auch etwas aus über die heutigen Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Kämpfens um egalitäre Werte. Es fehlt der mächtige, kollektive Akteur, so Rendueles.

Dabei geht es dem an der Madrider Universität lehrenden Soziologen, der auch deutlich Vorbehalte gegen Militanz formuliert, natürlich in erster Linie nicht so sehr um die auf der Straße ausgelebte Intensität politischer Auseinandersetzungen oder die Macht der Gewerkschaften. Vielmehr versucht er Antworten auf die Frage zu geben, in welchen gesellschaftlichen Bereichen und Debatten eigentlich Ansätze für einen egalitären Wandel schlummern oder die Möglichkeiten egalitärer Politik sogar eher erfolgreich kleingehalten und bekämpft werden.

Dabei widmet er sich dem Feld der Arbeitswelt, über die er zuletzt auch recht pointiert in seinem Buch »Kanaillen-Kapitalismus« (2018) geschrieben hat. Er beschäftigt sich mit der Krise der politischen Repräsentation und einer Kritik an basisdemokratischen Ansätzen von unten. Es geht um den Bildungsbereich, die Kulturindustrie und natürlich auch um die Frage, welche Bedeutung ein egalitärer Ansatz für einen Umgang mit den sich gerade überschlagenden und verstetigenden Krisen haben kann.

Klimawandel und dystopische Lebensumstände in einer womöglich nicht allzu weit entfernten Zukunft können nach seiner Meinung durch egalitäre Strukturen natürlich nicht aufgehalten werden, sie sind aber »die einzige realistische Option, um die größte Probe zu bestehen, mit der die Menschheit in den letzten zehntausend Jahren konfrontiert war«.

Jenseits dieser makrohistorischen Drohkulissen, die derzeit die politischen Debatten mitgestalten, geht es in Rendueles Buch aber erst einmal ganz realpolitisch um die Frage, welche Rolle das Recht auf ein Grundeinkommen für egalitäre Politik darstellen kann. Denn dass dies auch eine Alternative zur Gewerkschaftsarbeit sein kann, der Unternehmerverbände ganz offen gegenüberstehen, ist Rendueles bewusst. Deshalb sieht er das Grundeinkommen vor allem als mögliche Ergänzung zu einer grundsätzlich notwendigen demokratischeren Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Stärkung öffentlicher Grundversorgung, dem Ausbau des Genossenschaftswesens, staatlichen Beschäftigungsprogrammen, einer »aggressiven Vergesellschaftung strategischer Wirtschaftssektoren«, der groß angelegten Förderung von Kooperativen und von gemeinnützigen Pflichtdiensten.

Auf diesen letzten Punkt kommt Rendueles in seinem Buch immer wieder zu sprechen, denn die Idee und vor allem die Praxis egalitären Ausgleichs kann nur mit einer angewandten Solidarität einhergehen. Der Egalitarismus bedeute nicht gleichen Anspruch auf alle Güter wie in einem besonders gut sortieren Warenmagazin, sondern sie sei vor allem ein Produkt der gegenseitigen Verpflichtungen, die auch eine ganz praktische Seite in unserem Alltag hat – von der Care-Arbeit in der Familie bis hin zur solidarischen Vernetzung im Stadtviertel.

Gerade im Bildungsbereich kollidiert der vermeintliche Gleichheitsanspruch mit den ausschließenden Mechanismen unseres Schulwesens. Rendueles, der nebenbei auch gerne erwähnt, dass er selbst seine Kinder in einer staatlichen Schule angemeldet hat, geht recht detailliert auf die Situation der staatlich geförderten Privatschulen in Spanien ein, die dann nur von der Nachkommenschaft der oberen Mittelklasse aufwärts besucht werden.

Eine ganz ähnliche klassistische und rassistische Segregation gibt es ja auch hierzulande schon an den Grundschulen. Dabei wird oft der Eindruck vermittelt, als habe jeder gleichen Zugang zu allen Bildungseinrichtungen. Die Bildung wäre eine Art Ticket in eine bessere soziale und kulturelle Identität. Nur funktioniert dieser Mechanismus eines sozialen Aufstiegs gar nicht wirklich, wie auch jede OSZE-Bildungsstudie belegt. Aber diese Vorstellung von Bildung wirkt als »diskursives Placebo, das aus unserer politischen Ohnmacht folgt und dazu führt, dass wir unsere gescheiterten Hoffnungen hinsichtlich der sozialen Gleichheit auf die Bildung projizieren«, so der Soziologe.

Eine ganz ähnliche Rolle schreibt Rendueles auch dem Kulturbereich zu, der im Zuge großer Prestigeprojekte, wie etwa das 1997 eröffnete Guggenheim-Museum in Bilbao, vor allem zum Hintergrundrauschen eines marktliberalen Triumphzuges und einer inwertsetzenden Umgestaltung der urbanen Räume wurde.

Für Cesar Rendueles ist Gleichheit oder Egalitarismus als politisches Konzept aber kein Selbstzweck an sich. Ihm geht es vor allem um die Sichtbarmachung einer Ungleichheit, die nicht nur in ökonomischer Hinsicht immer mehr um sich greift, während weiterhin borniert die »Gleichheit aller Menschen« propagiert wird. »Das Problem an der These, bei ihrer Geburt seien alle Menschen gleich, besteht darin, dass sie eine simple und beruhigende Vorstellung von Gerechtigkeit vermittelt.«

Dabei ist es höchste Zeit zu handeln und eine politische Praxis zu entwickeln, die jenseits individueller kapitalistischer Verteilungskämpfe, autoritärer bürokratischer Strukturen und einer verselbstständigten Parteienherrschaft liegt. »Wir können einen Prozess in Gang setzen, der die autoritären und repressiven Aspekte der staatlichen Intervention begrenzt. Die Solidarität unter Gleichen ist essenzieller Bestandteil einer egalitären Schockstrategie in Zeiten der sozial-ökologischen Katastrophe.«

Ob das funktionieren kann und reicht, um angesichts sich verdichtender, fortlaufender und immer neuer multipler Krisen, das Ruder herumzureißen, wird sich aber erst noch zeigen müssen.

Cesar Rendueles: Gegen Chancengleichheit – Ein egalitaristisches Pamphlet, Suhrkamp, 329 S., 20 €.

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