Nazi-Raubgut in Berlins Bibliotheken: Die Herkunft der Bücher

Die Provenienzforschung in Berlin ist bemüht, NS-Raubgut an Nachfahren und Institutionen zurückzugeben

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 7 Min.

Prächtig steht sie mitten in Berlin, direkt neben dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität. Tag für Tag zieht sie Studierende aufgrund des umfangreichen Materials, der langen Öffnungszeiten und der konzentrierten Arbeitsatmosphäre an. Und wie alle großen staatlichen deutschen Institutionen hat auch sie eine NS-Vergangenheit voll von Verbrechen: die Staatsbibliothek zu Berlin im Haus Unter den Linden.

Das NS-Regime beschlagnahmte Bibliotheken von Gewerkschaften, Freimaurern, Privathaushalten, vor allem jüdischen Familien. »Ab 1934 war die Preußische Staatsbibliothek die zentrale Sammelstelle für beschlagnahmte Bücher und Bibliotheken. Wobei die Bücher dann in Bibliotheken in ganz Deutschland weiterverteilt wurden, später auch bis nach Österreich«, sagt Petra-Regine Dehnel. Sie ist Provenienzforscherin an der Staatsbibliothek. Am Mittwoch, dem Internationalen Tag der Provenienzforschung, hatte Dehnel zur »Spurensuche« geladen.

Die Provenienzforschung hat zur Aufgabe, die Herkunft der Bücher zu untersuchen und Raubgut an die ursprünglichen Eigentümer beziehungsweise deren Nachfahren oder Nachfolgeinstitutionen zurückzugeben. So auch an der Staatsbibliothek, die ab 1953 die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände beherbergte, also für wissenschaftliche Bücher, die vor 1945 veröffentlicht worden sind. »Neun bis zehn Prozent davon ist NS-Raubgut«, sagt die Forscherin.

»Dafür muss jedes Buch einzeln in die Hand genommen werden«, berichtet Dehnel. Es gebe etwa drei Millionen historische Drucke im Bestand der Staatsbibliothek, davon seien bisher 180.000 mit Provenienzen erschlossen, also auf die Herkunft untersucht worden. Davon wiederum seien 7000 als NS-Raubgut identifiziert worden oder würden als NS-Raubgut verdächtigt. Dehnel sagt: »In den letzten Jahren konnten wir über 2000 Bücher zurückgeben an Privatpersonen und im NS verfolgte Institutionen.«

Der Staatsbibliothek, die zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehört und Bund-Länder-finanziert ist, kommt eine besondere Rolle im Bereich von Raub und Restitution von Büchern zu. »Es war damals und ist bis heute die bedeutendste Bibliothek in Deutschland«, sagt die Forscherin. Hier waren auch historisch viele Institutionen unter einem Dach versammelt, auch während der Nazizeit.

Weniger groß und bedeutend scheint die Berliner Stadtbibliothek in der Breite Straße, unweit der Berliner Schlossimitation. Sie ist neben der Amerika-Gedenkbibliothek am Halleschen Tor in Kreuzberg der zweite zentrale Standort der Zentral- und Landesbibliothek (ZLB), die laut eigenen Angaben mit über 3,5 Millionen Medien und aktuell 1,5 Millionen Besuchern im Jahr die größte öffentliche Bibliothek Deutschlands ist.

Auch in der Stadtbibliothek erforscht ein Team die Herkunft der Bücher, die vor allem nach Ende des Zweiten Weltkriegs in ihren Besitz gelangt sind. »Die Auseinandersetzung mit dem NS ist längst nicht abgeschlossen«, sagt der Historiker Peter Hirschmiller, einer der Provenienzforscher*innen der ZLB. Immer wieder gibt auch die ZLB Bücher zurück, bei denen es sich um NS-Raubgut handelt – etwa 40 bis 50 dieser Restitutionen organisiert das Provenienzforschungsteam im Jahr, so Hirschmiller.

Doch wie gelangten die geklauten Bücher überhaupt in die Stadtbibliothek? Ein Großteil des Raubguts stammt aus der sogenannten Gegnerbibliothek, die das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) anlegte, um ihre eigene pseudowissenschaftliche Ideologie zu füttern, erklärt der Historiker. Dort wurden also beschlagnahmte Bücher von verfolgten Institutionen und Familien gesammelt. Vor der Gründung des RSHA, also der Zusammenlegung der NS-Sicherheitsorgane im Jahr 1938, gehörten etwa 85.000 Bücher zum Bestand dieser Zentralbibliothek, bis 1945 sei der Bestand auf bis zu drei Millionen gewachsen.

Die Nazis seien auf ihren Raubzügen auch außerhalb Deutschlands geplant vorgegangen. So gab es Auflistungen von entsprechenden Bibliotheken in Paris, die nach der Einnahme der Stadt geplündert werden sollten, noch bevor die französische Metropole im Juni 1940 von den Deutschen besetzt wurde. Das entsprechende Dokument, das die Provenienzforscher*innen untersucht haben, zeugt auch von der Vermessenheit der NS-Funktionäre: In der weit über Paris hinausgehenden Gesamtliste finden sich selbst Bibliotheken in Istanbul.

Nach 1945 sahen sich die Berliner Bibliotheken unterdessen massiven Kriegsverlusten gegenüber, weshalb der Magistrat und das Polizeipräsidium nach von den Nazis beschlagnahmten Büchern suchen ließen, um den Bestand der Bibliotheken wieder aufzubauen. Dafür gab es Bergungsstellen für wissenschaftliche Bücher. Monatlichen Berichten zufolge gingen ein Großteil der geborgenen Bücher an die Ratsbibliothek, an die Kammer für Kunstschaffende und an die Stadtbibliothek, wobei die Bestände der ersteren beiden einige Jahre später auch in die Stadtbibliothek übergegangen sind. Nach Angaben des Abschlussberichts wurden schlussendlich über eine Million Bücher geborgen und nach Themen aufgeteilt an die verschiedenen Bibliotheken verteilt. »Davon sind am Ende fast 400.000 an die Stadtbibliothek gegangen«, sagt Hirschmiller.

Die Forscher*innen sind nun damit beschäftigt, die Herkunft dieser Bücher zu bestimmen und identifiziertes Raubgut zurückzugeben. Entscheidende Hinweise geben vor allem die in Gänze erhaltenen Zugangslisten aus der Zeit von 1933 bis 1945 sowie davor und danach. Dort werden die Buchtitel der eingegangenen Bücher gelistet, bei einigen sind immerhin Angaben zur Herkunft enthalten. Besonders relevant ist der Hinweis auf die Bergungsstelle 15, denn dort wurden die Bücher aus der RSHA-Zentralbibliothek gesammelt und verteilt. »Das ist zu 99,9 Prozent Raubgut«, sagt Historiker Hirschmiller.

Ein Buch als Raubgut zu identifizieren, ist indes nur der erste Schritt in der Provenienzforschung. Entscheidend ist, wo es gestohlen wurde. Hinweise darauf sind oft in den Büchern selbst zu finden – zum Beispiel durch Exlibris, also personalisierte Buchmarken, durch Stempel oder durch handschriftliche Notizen. »Stempel sind oft sehr gut lesbar und erhalten noch weiterführende Informationen, vor allem auch zu Institutionen, denen die Bücher vorher gehört haben«, sagt Sebastian Finsterwalder. Er ist festangestellter Bibliotheksmitarbeiter und arbeitet ebenfalls an der Provenienzforschung in der Stadtbibliothek.

Was mit den Büchern passiert, die sich zwar als Raubgut identifizieren, aber nicht weiter zuordnen lassen, sei noch eine offene Frage. »Zunächst haben wir sie aus dem Bestand herausgenommen«, sagt er. Eine Option wäre, sie auszustellen, aber dafür fehle der Stadtbibliothek die Fläche.

Gerade bereite das Team eine Rückgabe an die Arbeiterkammer Wien vor, sagt Finsterwalder. Generell gehören Gewerkschaften zu den Institutionen, an die sehr viel zurückgegeben wird, weil deren Bibliotheken schon früh von den Nazis beschlagnahmt wurden. Daneben stammen viele der in der Stadtbibliothek aufbewahrten geraubten Bücher aus den Haushalten jüdischer Familien, die häufig direkt nach der Deportation etwa an die öffentliche Pfandleihe übergegangen sind.

Erst kürzlich wurde ein Briefwechsel gefunden, aus dem hervorgeht, dass 1943 die Stadtbibliothek 40.000 Bände deportierter Jüd*innen übernommen hat. Davon seien aber viele nicht mehr auffindbar. »Die Bibliothek hat die Bücher direkt weiterverkauft, mit Gewinn«, sagt Finsterwalder. Unter den Käufer*innen seien auch Privatpersonen gewesen, ein Operndirektor inklusive.

Die Provenienzforschung arbeitet auf diese Weise nicht nur immer weitere Einzelheiten des perfiden Mord- und Raubsystems der Nazis heraus. Auf der Suche nach den Erb*innen der zurückzugebenden Bücher geht das Forscher*innenteam auch detailliert den Verfolgungsgeschichten von jüdischen Familien nach, erzählt Hirschmiller. »Viele sind dankbar, dass wir uns die Arbeit machen. Oft sind die Bücher, die wir zurückgeben, finanziell gar nicht viel wert, aber emotional schon.« Einer Person habe man eine billige Ausgabe von »Hänsel und Gretel« übergeben, die davon sehr gerührt war. »Oft werden wir aber auch gefragt, warum wir damit erst jetzt ankommen«, so der Historiker.

Ein Fall ist Hirschmiller besonders im Gedächtnis geblieben. So habe man Kontakt zu einer amerikanischen Familie gefunden, nachdem sich ein Familienmitglied auf die Suche nach der eigenen Geschichte begeben habe. Parallel habe Finsterwalder auf der Suche nach den Erb*innen eines Buches einen Stammbaum ebendieser Familie angelegt. »Die Familie wusste gar nicht, dass sie eine deutsche Herkunfts- und Verfolgungsgeschichte hat«, sagt Hirschmiller.

Das Spannende an der Arbeit in der Provenienzforschung sei, dass man mit einem kleinen Schnipsel an Informationen aus einem Buch anfange und am Ende ganze Familiengeschichten rekonstruiere. Gleichzeitig ist es eine mühsame und auch eine traurige Arbeit: Allzu oft sind die gesuchten Familien fast vollständig bis komplett von den Nazis ermordet worden.

Das Forschungsprojekt an der ZLB ist Teil eines Netzwerks, das in der kooperativen Datenbank für NS-Raubgutforschung »Looted Cultural Assets« Forschungsergebnisse fortlaufend veröffentlicht. Ziel ist es, dass Personen und Institutionen, die selbst nach gestohlenen Kulturobjekten wie Büchern suchen, diese in der Datenbank finden können. In dem Netzwerk arbeiten einige deutsche und internationale Institutionen zusammen, darunter die Stabsstelle NS-Raub- und Beutegut der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, die die Webseite der Datenbank betreibt. Erstaunlich ist bei alldem vor allem eines: »Es gibt keinerlei Regeln oder Verpflichtungen für Institutionen, sich mit NS-Raubgut im eigenen Bestand zu beschäftigen und die Provenienzen zu erforschen«, sagt Peter Hirschmiller.

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