»Antigone« im Gorki-Theater: Ungeheuer wir

Am Maxim-Gorki-Theater Berlin nimmt Regisseurin Leonie Böhm »Antigone« auseinander, führt ihre Bestandteile an die Grenzen der Scham und setzt sie zu einem erbaulichen Miteinander neu zusammen

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
Musizieren mit den Freundis: »Antigone« sehr frei nach Sophokles
Musizieren mit den Freundis: »Antigone« sehr frei nach Sophokles

Es fängt ausgesprochen peinlich an. Die Spielerinnen versammeln sich am Bühnenrand um ein Keyboard, drücken mit einzelnen Fingern auf die Tasten und singen einen Text, der mit reichlich gutem Willen an Motive aus dem Antigone-Mythos erinnert. »Ja, ich pfeif auf deine Regeln / Denn du schaust auf mich herab / Wenn ich auf die Schnauze segel / Kommen Freundis, die ich hab«. Klar, so könnte Kreons Tochter auf dessen Verbot reagiert haben, ihren toten Bruder zu beerdigen, vorausgesetzt Sophokles beherrschte den Ton heutiger Fünftklässlerinnen.

Nach dem Lied treten Julia Riedler, Çiğdem Teke, Lea Draeger und Eva Löbau dann in die Mitte der Bühne, um einander anzuspucken. Ja, sie rotzen einander richtig voll, ziehen Spuckefäden, speien einander in die Münder, jubeln auf, wenn einer ein Bläschen gelungen ist. Das sieht teilweise sogar ziemlich lustig aus, in erster Linie ist es aber eine Zumutung für alle Beteiligten. »Siehst du, dass ich mich ein bisschen schäme?«, fragt Lea Draeger dann auch kurz darauf einen Zuschauer in der ersten Reihe, der höflich behauptet, nichts dergleichen zu erkennen. Draeger aber lässt keinen Zweifel daran, dass ihr das bislang Gezeigte selbst durchaus unangenehm war.

Es geht also um die Scham in dieser Inszenierung von Leonie Böhm am Berliner Maxim-Gorki-Theater, womit aber nur ein Thema unter vielen gesetzt wäre, die sie hier in munterer Assoziation zum Antigone-Mythos umspielen. »Wir wollen uns reizen, das zu zeigen, was lieber unangerührt in unserem Inneren bliebe«, bringt eine von ihnen das Programm auf den Punkt, womit die Spucke noch einmal eine andere Bedeutung erfährt, ebenso wie der Kot, mit dem sie sich kurz darauf beschmieren. »Ich will, dass wir uns diese Scheiße anschauen, dass wir das ertragen, dass wir uns ertragen, dass wir mit unseren Händen uns Sterbliche tragen.« Die Scheiße, damit ist salopp auf den Begriff gebracht, was man auch als Conditio humana bezeichnen könnte, als Oberbegriff für die Bedingungen, denen der Mensch unterworfen ist.

In erster Linie wäre da die Endlichkeit des Lebens, mit der umzugehen das Ensemble an diesem Abend einige Energie aufwendet. Sie fragen einander, wie sie beerdigt werden wollen, studieren den Ablauf der Zeremonie ein, wälzen sich schon einmal probehalber in dem Lehm, aus dem sie geschaffen sind. Martin Heidegger beschrieb die Grundbedingung des menschlichen Lebens als Sein zum Tode. Jede Handlung eines Menschen findet in Erwartung seines absoluten Endes statt und erhält durch ebendieses Ende seinen Wert.

Meist wird diese existenzphilosophische Anthropologie als Proklamation der Freiheit verstanden. Der Mensch ist zur Selbstbestimmtheit verurteilt und ganz auf sich gestellt, er allein entwirft sich vor dem Horizont seiner Auslöschung, jede seiner Handlungen ist also von maximaler Bedeutung. Doch damit ist noch kein Wort über die Einsamkeit gesagt, die ein so maßlos freier Mensch ertragen muss, und auch keines über die immense Verantwortung für das eigene Leben, die bisweilen in nackte Angst umschlägt.

Die Spielerinnen unterstützen einander bei der Bewältigung dieser ihrer Menschlichkeit. Zahava Rodrigo hat ihnen eine Art Höhle gebaut, schwarze Tücher wallen von der Decke und den Seiten der Bühne, auf deren Boden einige Formationen liegen, die ebenso als Felsen wie als Kothaufen verstanden werden können. Rechts an der Seite steht die Musikerin Fritzi Ernst (früher Mitglied der Band Schnipo Schranke) am Keyboard, singt ab und zu, spielt ein paar Akkorde, schaut dabei jedoch stets interessiert und wohlwollend den Spielerinnen zu.

Ein Safe Space ist das hier, nicht nur einer für die Frauen auf der Bühne. »Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als wir«, zitieren sie Sophokles absichtsvoll falsch, bei dem der Chor noch den Menschen beschrieb, ohne selbst für ihn stehen zu dürfen. Riedler, Teke, Draeger und Löbau nehmen es sich heraus, an diesem Abend für ihre Gattung zu sprechen, doch – und das macht die Attraktivität dieser Arbeit aus – verstehen sie das nicht als Auftrag für den hohen Ton, für die Wendung ins Abstrakte.

Das Existenzielle trifft hier stattdessen auf sehr konkrete Beziehungsarbeit, wenn sich die Spielerinnen auch mal zerstreiten, verführen oder einander liebevoll Dreck aus dem Gesicht wischen. »Mitzulieben bin ich geboren«, sagt Eva Löbau einmal, womit eine Entgegnung auf die existenzielle Einsamkeit formuliert wäre, die nicht im Tod, sondern in der Fürsorge für den anderen seinen Zielpunkt findet.

Grundsympathisch muss man diesen Abend nennen, der so unangenehm begann. Und das liegt insbesondere an seiner entspannten Atmosphäre. Die vier schaffen etwas Seltenes. Obwohl sie gar nicht viel Text zur Verfügung haben, geschweige denn eine stringente Handlung, führen sie mit großer Sicherheit durch die knapp zwei Stunden. Es macht schlicht Freude, zu beobachten, wie sie jeweils so großen Anteil nehmen am Spiel der anderen. Und damit an den Mikrokosmen, die in jeder Begegnung zwischen Menschen aufeinandertreffen.

Nächste Vorstellungen: 21.4. und 21.5.
www.gorki.de

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