Verschleppung in Mexiko: »Eine Ohrfeige für den Staat«

In Mexiko wurden der Gemeindeaktivist Antonio Díaz und der Menschenrechtsanwalt Ricardo Lagunes gewaltsam verschleppt. Dahinter steht ein Minenkonflikt, in den das größte Stahlunternehmen Lateinamerikas verwickelt ist.

  • Interview: Kathrin Zeiske
  • Lesedauer: 7 Min.
Demonstrierende vor dem Gebäude der Secretaría de Gobernación in Mexiko-Stadt. Die Behörde ist für die mexikanische Innenpolitik zuständig. Sie fordern, dass der Staat sich für die Freilassung von Antonio Díaz und Ricardo Lagunes einsetzt.
Demonstrierende vor dem Gebäude der Secretaría de Gobernación in Mexiko-Stadt. Die Behörde ist für die mexikanische Innenpolitik zuständig. Sie fordern, dass der Staat sich für die Freilassung von Antonio Díaz und Ricardo Lagunes einsetzt.

Frau Ramírez, Ihr Mann ist verschwunden. Er arbeitete als Anwalt für die Gemeinde Aquila im Bundesstaat Michoacán. Sie wurden dort geboren. Worum geht es in dem Konflikt?

Menschenrechte in Mexiko

Die Verschleppung von Ricardo Lagunes und Antonio Díaz sagt viel über die Situation in Mexiko aus. Über 109 000 Menschen sind verschwunden, 72 Aktivist*innen wurden allein im vergangenen Jahr ermordet. Die vielen Fälle stehen für eine Politik, die dem blutigen Gewinnstreben der Kartelle keinen Einhalt gebietet. Die Regierung simuliert Rechtsstaatlichkeit, obwohl Straflosigkeit vorherrscht. Allein aus dem Bundesstaat Michoacán mussten 2022 über 13 000 Menschen vor Gewaltverbrechen und Zwangsrekrutierungen der Kartelle fliehen. Eine gesetzliche Verteidigung ist unter diesen Umständen gefährlich.Der verschwundene Anwalt Ricardo Lagunes war nicht unerfahren auf diesem Gebiet. Er brachte indigene Gemeinden mit ihren Belangen bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ebenso die Klage der Überlebenden des Massakers von Acteal, bei dem paramilitärische Gruppen 1997 unbewaffnete Unterstützer*innen des zapatistischen Aufstands attackierten und Frauen und Kinder umbrachten.Die Familien Lagunes und Díaz haben sich an fast alle staatlichen Institutionen gewendet. Doch in diesem prominenten Fall scheint selbst die Regierung von Andrés López Obrador keine Möglichkeit zu sehen, die beiden Aktivisten zu befreien. kaz

Meine Familie musste 1989 aus Aquila fliehen, als mein Vater ermordet wurde. Auch damals ging es um den Konflikt zwischen der indigenen Gemeinde und dem Stahlunternehmen Ternium, das Eisenerz auf ihrem Land abbaut. Knapp zehn Jahre zuvor hatten die Gemeindemitglieder zunächst erreicht, dass der Bergbau auf ihrem Gemeindeland gestoppt wurde. Unmittelbar nach dem Tod meines Vaters wurde der Betrieb wieder aufgenommen. Als wir wegzogen, war ich vier Jahre alt, das jüngste von vier Kindern. Wir gingen zu Verwandten nach Nayarit. Später ermöglichten es Priester, die mit meinem Vater befreundet gewesen waren, dass ich in Colima Geschichte studieren konnte. Dort lebe ich noch heute und forsche zum Einfluss des Sozialpastoralen in den indigenen Gemeinden in Michoacán. Diese war für den Beginn der gemeinschaftlichen Organisierung wichtig, an der auch meine Familie beteiligt war.

Also ist der Minenkonflikt in Aquila schon Jahrzehnte alt?

Die Bergbaukonzessionen wurden tatsächlich schon unter der Diktatur von Porfirio Díaz vergeben, der 1911 von der Mexikanischen Revolution gestürzt wurde. Danach rangen britische und nordamerikanische Unternehmen um die Lizenzen. Der Oberste Gerichtshof sprach sie aber 1921 dem Unternehmen Ilsa der Monterrey-Gruppe zu. Heute unterhält das Stahlunternehmen Ternium die Mine Las Encinas in Aquila. Dahinter steht argentinisches und italienisches Kapital, der Firmensitz ist in Luxemburg.

Wie haben Sie Ihren Mann Ricardo kennengelernt?

Ricardo Lagunes begann seine Arbeit für die Gemeinde Aquila im Jahr 2011. Eigentlich war zu diesem Zeitpunkt gerade ein Sieg der Gemeindemitglieder gegen das Minenunternehmen errungen worden. Als wahrscheinlich einzige indigene Gemeinschaft in Mexiko hatten sie die Auszahlung von Lizenzgebühren erreicht. Um auf ihrem Territorium Eisenerz abbauen zu können, muss Ternium einen Prozentsatz zahlen, der an die täglichen Ausfuhrmengen gekoppelt ist. Damals wurde allerdings die selbstorganisierte kommunale Polizei von Aquila kriminalisiert, ihre Angehörigen wurden ins Gefängnis geworfen. Ricardo übernahm ihre Verteidigung vor Gericht.

Dafür hatte ihn der Gemeinderat eingestellt?

Diese Polizeiform indigener Gemeinden war wichtig, weil diese sich weigerten, Schutzgelder auf die Lizenzgebühren der Mine an die Mafia auszuzahlen. Seit der Jahrtausendwende ist Michoacán ein blutig umkämpftes Gebiet auf der Drogenroute zwischen Südamerika und den USA. Der Bundesstaat hat viele eigene Ressourcen, aus denen Kartelle Einnahmen erpressen wollen.

In dieser heiklen Situation baut Ternium als größtes Stahlunternehmen Lateinamerikas Eisenerz ab.

Das ist ein Konflikt um Interessen, bei dem alle lokalen Akteure ihre Finger im Spiel hatten. Außenstehende machten geltend, als indigene Gemeindemitglieder anerkannt zu werden, um von den Lizenzgebühren profitieren zu können. Gleichzeitig rissen sie die Macht innerhalb der basisdemokratischen Strukturen der Gemeinde Aquila an sich, um der Minengesellschaft freie Bahn zu gewähren. Um dieser Unterwanderung entgegenzutreten, wurde mein Mann Ricardo vor vier Jahren erneut angestellt. An der Seite des Lehrers und Aktivisten Antonio Díaz Valencia, eines würdigen Herrn von 71 Jahren, kämpfte er darum, dass die Gemeinde ihre kommunalen Rechte, vor allem gegenüber Ternium, wiedererlangen konnte und den dubiosen Geschäften einzelner Einhalt geboten wurde.

Hatte Ihr Mann Erfolg dabei?

Ricardo erreichte, dass das Agrartribunal von Colima der aktuellen Gemeindevertretung ihre Rechtmäßigkeit absprach. Über die drei Jahre, als der Prozess lief, behielt das Tribunal Gelder ein, die Ternium auszahlt. Ricardo konnte erreichen, dass diese umfangreichen Zahlungen künftig nicht an Einzelne, sondern paritätisch an die Gemeinschaft erfolgen. Darüber berichtete er auf der Gemeindeversammlung am 15. Januar, von der er und Don Antonio nicht mehr zurückkehrten.

Wann haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmte?

Es war abends spät, und Ricardo war noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Bei anderen Gelegenheiten war er mit Don Antonio noch lange in Aquila geblieben, um zu Abend zu essen. Ich hatte ihm geschrieben und gefragt, wie die Versammlung gelaufen war. Er antwortete mir, dass sie auf dem Rückweg wären. Schließlich schrieb ich Ricardo, wir würden jetzt schlafen gehen. Unsere Tochter musste morgens zur Schule und ich zur Arbeit. Als mein Mann morgens nicht neben mir lag, dachte ich, er wäre vielleicht früh wieder gegangen, denn er hatte einen Termin, um einen neuen Reisepass zu beantragen. Erst als ich meine Tochter zur Schule brachte, rief mich meine Mutter an und fragte, ob Ricardo nach Hause gekommen sei, denn Don Antonio würde vermisst. Erst da begriff ich, dass etwas passiert sein musste.

Wie geht es Ihnen mit dieser Situation?

Das alles ist furchtbar. Ich bin Ricardos Frau, ich bin auch die Mutter seiner Tochter. Darüber hinaus bin ich die Tochter von Gemeindemitgliedern aus Aquila. Alles, was dort passiert, schmerzt mich zutiefst. Trotzdem ist meine Hoffnung ungebrochen, dass Ricardo und Don Antonio zu uns zurückkehren. Es sind so gute und aufrechte Menschen, die unsere Behörden nicht einfach im Stich lassen können.

Seit dem Vorfall sind schon drei Monate vergangen. Gibt es Ermittlungsergebnisse?

Nein. Wir sind es, die hinterher sein müssen, damit ermittelt wird. Die Staatsanwaltschaft von Michoacán erklärte zunächst, sie sei nicht zuständig, weil der Geländewagen, in dem die beiden unterwegs waren, knapp hinter der Landesgrenze zu Colima gefunden wurde. Unerhört, schließlich ist der Konflikt, um den es geht, in Michoacán. Genau deswegen aber wollte sich die Staatsanwaltschaft von Colima aus dem Fall zurückziehen. Das ist unglaublich frustrierend, keiner will politische Verantwortung tragen. Die Region steckt in einer tiefen humanitären Krise. Die Gewalt eskaliert – und die Gouverneure müssen sich dieser Verantwortung stellen. Ricardo ist ein national und international renommierter Menschenrechtsanwalt. Sein Verschwinden ist eine Ohrfeige für den mexikanischen Staat. Die einzige Behörde, in die wir als Familien unser Vertrauen setzen, ist die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Mexiko.

Wie hat das Bergbauunternehmen reagiert?

Ternium hat sich anfangs nicht zu den Verschleppungen geäußert. Erst als Journalisten das Thema in der täglichen Pressekonferenz des Präsidenten Andrés López Obrador aufbrachten, veröffentlichte der Konzern eine halbherzige Beileidsbekundung und schrieb uns Familienangehörige an; Don Antonios Kinder, Ricardos Geschwister, seine Eltern und mich. Sie drückten ihr Bedauern über den Vorfall aus, wiesen aber als Unternehmen jeglicher Verantwortung von sich. Alles in schlecht geschriebenen Copy-and-Paste-Textbausteinen. Wir hatten dann als Familienangehörige Treffen mit den Gouverneuren von Colima und Michoacán und baten diese, für uns bei Ternium vorzusprechen. Allerdings ist der Bundesstaat Colima völlig von den Einnahmen aus dem Bergbau abhängig. Der Konzern sponsert Sportteams und vergibt Stipendien.

Was wünschen Sie sich von Ternium?

Wir wissen, dass das Unternehmen genügend Einfluss und Kontakte in der Region hat – auch zur organisierten Kriminalität –, um eine Freilassung von Don Antonio und Ricardo erreichen zu können. Ich teilte dies auch der Kontaktperson von Ternium mit, die uns Nachrichten geschrieben hatte: Der Konzern ist der wichtigste regionale Player, und es ist unglaubwürdig, dass er nicht notgedrungen auch zur Mafia Kontakt unterhält. Das Unternehmen hat in den USA eine Stellungnahme veröffentlicht, dass es sich für eine Aufklärung einsetzt und mit uns zusammenarbeiten würde. Aber passiert ist nichts.

Präsident Andrés López Obrador hat kürzlich den Lithium-Abbau verstaatlichen lassen. Glauben Sie, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung ist, um internationalen Minenkonzernen Einhalt zu gebieten?

Der Präsident steht vor seinem letzten Amtsjahr. Mexiko aber hat die große Aufgabe, das Monster Bergbau zu kontrollieren, noch vor sich. Internationale Standards im Umweltschutz werden selten eingehalten. Ternium selbst hat internationale Verträge unterzeichnet, um einen »sozial verantwortlichen Bergbau« zu betreiben. Doch tatsächlich hält das Bergbauunternehmen diese Protokolle nicht ein. Es gibt wahrscheinlich auch kein einziges Bergbauunternehmen in Mexiko, das dies tut. Die Tagebaue stellen in unserer Region ein großes Problem dar. Auf dem gesamten Küstenstreifen von Michoacán gibt es mindestens 100 Bergbaukonzessionen. Die indigene Bevölkerung wird darüber nicht befragt. Die Regierung gewährt die Konzessionen dort, wo diese lebt, wo sie ihre Felder bestellt. Es ist ein heuchlerisches Spiel seitens des Staates.

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