»In Mexiko haben wir eine Maschinerie des Todes«

Ein Gespräch über die Logiken hinter der Gewalt, ein neues Gesetz ohne Hoffnung und Mexiko als Prototyp eines neuartigen Konflikts

  • Interview: Moritz Osswald
  • Lesedauer: 9 Min.
Paola Pacheco Ruiz
Paola Pacheco Ruiz

Wir befinden uns in Michoacán, einem der gewalttätigsten Bundesstaaten Mexikos. Oft wird die Gewalt im Land mit den Staaten im Norden in Verbindung gebracht. Wieso eskaliert die Gewalt jetzt gerade hier?

Interview

Paola Pacheco Ruiz begleitet bedrohte ­
Akti­vist*innen. Sie kennt deren ­zahllose ­Berichte über Gewalt, Anfeindungen und ­Drohungen. Pacheco arbeitet für die NGO ­Serapaz, die zum Bündnis Espacio OSC gehört.

Michoacán war das Epizentrum der Kriegserklärung 2006. Hier begann damals der Krieg gegen die Drogen. Deshalb haben wir bis heute einen Staat, der keine Bedingungen für Frieden in sich trägt. Doch es ist nicht nur der Drogenhandel. Die organisierte Kriminalität deckt über 16 Arten von Straftaten ab: Waffenschmuggel, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Verschwindenlassen … Eine schier unendliche Zahl an Verbrechen. Zudem ist Michoacán der größte Produzent von Avocados im ganzen Land. Das ist ein wichtiger Punkt, den man verstehen muss: Seit mehreren Jahren gibt es Streit um die Gebiete für Avocadoplantagen. Das hat vor allem zwei Dinge zur Folge: die Vertreibung ganzer Gemeinden und die Abholzung unzähliger Waldstücke. Dieser Boom, der Verkauf des »grünen Goldes«, hat eine ganze Reihe von sozialen Problemen mit sich gebracht.

Dabei hat die europäische und US-amerikanische Gier nach dem Superfood sicher auch ihren Anteil.

Natürlich. Die in Mexiko produzierten Avocados sind für den Export vorgesehen – vor allem in die USA und nach Europa. In einer vernetzten kapitalistischen Welt, in der der Konsum eines Produkts zur Mode wird, haben wir verschiedene Auswirkungen zu erwarten. Menschen werden enteignet. Als Verbraucher tragen wir eine gewisse Verantwortung dafür, ob wir die Herkunft unserer Produkte kennen wollen oder eben nicht. Im Falle Michoacáns und der Avocados hat dies zu enormen Problem geführt.

Die mexikanische Autorin und Expertin für Drogenkriminalität, Anabel Hernández, sprach vor etwa einem halben Jahr in einem FAZ-Interview von der Verantwortung von Konsumentenländern wie Deutschland. Der Konsum von Drogen fördere die endlose Gewaltspirale in Mexiko. »Ihr Deutschen seid Heuchler«, sagte sie damals. Stimmen Sie dem zu?

Ich denke, die Situation ist weitaus komplexer. Es ist nicht damit getan, lediglich ein Land verantwortlich zu machen. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung auf der Ebene der Staaten. Nicht alles fällt auf die Drogenkonsumenten zurück. Sonst könnten diese schnell kriminalisiert werden. Es sollten Gesetze und Räume geschaffen werden, in denen bestimmte Drogen legalisiert sind. Dennoch ist es eine Tatsache, dass die Produktion bestimmter Drogen wie zum Beispiel Kokain viel Blut in unser Land gebracht hat. In diesem Sinne wird es auch zu einer kollektiven und politischen Herausforderung, die gegenwärtigen sozialen Bedingungen in einen Kontext des Friedens zu verwandeln.

Hier in Michoacán, wo wir durchschnittlich ein Massaker pro Woche erleben, scheint ein Kontext des Friedens ziemlich schwierig zu erreichen zu sein. Wie schafft man Frieden in einem so gewaltgetränkten Umfeld?

In so einem komplexen, konfliktreichen und gewalttätigen Land wie Mexiko hat man keine große Wahl. Es ist notwendig, sich für den Frieden einzusetzen – unter den gegebenen Bedingungen.

Und wie soll das funktionieren?

Bei uns steht die positive Transformation von Konflikten im Vordergrund. Unserer Meinung nach ist es unerlässlich, von den Gemeinden aus zu arbeiten. Wir arbeiten viel mit Gemeinschaften und Kollektiven, die gerade dabei sind, strukturelle Bedingungen zu verändern, damit sie ein Leben in Würde führen können.

Wie sieht das konkret aus?

Wir begleiten Dialogprozesse und begleiten Gruppen. Verschiedene Kollektive und Organisationen setzen sich mit uns in Verbindung. Wir selbst »suchen« sie nicht auf. Dann stellen wir eine Diagnose, sprechen mit ihnen über ihre Bedürfnisse, schaffen Fürsprache. Wir erarbeiten mit den Betroffenen Kommunikationsstrategien.

Der Ansatz der Regierung besteht hingegen darin, das Land mehr und mehr zu militarisieren. Ich gehe davon aus, dass Serapaz als Friedensorganisation damit nicht einverstanden ist.

Die Militarisierung ist nicht unser zentraler Fokus. Wir versuchen, Bedingungen für Frieden zu schaffen, auch in einem Kontext der Militarisierung. Natürlich sehen wir das stellenweise kritisch, denn das mexikanische Militär hat immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen zu verantworten.

Die geringste Mordrate seit über 100 Jahren hatte Mexiko überraschenderweise Anfang 2007, wenige Monate nach dem Beginn des Drogenkrieges. Ein vermeintlicher Indikator für den Erfolg der militärischen Strategie, die seitdem von jeder Regierung verfolgt wird. In den Folgejahren bis heute erreichte die Gewalt jedoch unvorstellbare Maße. Warum wird diese Strategie nie angepasst, wenn sie denn nicht funktioniert?

Da sind viele Interessen im Spiel. Angesichts einer zunehmenden Schwächung der Gemeinde- und Landespolizisten manifestiert sich die Kraft des Staates mehr und mehr in der Armee. In den vergangenen Jahren hat das Militär hierzulande viel Macht bekommen. Das hat zu einer Art falscher Rechtmäßigkeit geführt. Eine Entmachtung der Polizeikräfte bei gleichzeitiger Stärkung der Armee führt zu einem militarisierten Sicherheitssystem. Dennoch haben wir, wie Sie sagen, bis jetzt keine wirklichen Ergebnisse gesehen. Das liegt auch daran, dass der politische Wille fehlt. Sicherheit wird nur im Sinne der körperlichen Unversehrtheit gedacht. Die Idee einer menschlichen Sicherheit, die etwa Lebensmittelsicherheit oder soziale Sicherheit enthält, wird nicht gedacht. Deswegen werden alle Karten auf die Militarisierung gesetzt.

Es scheint paradox: Trotz höherer Sicherheit, die den Menschen mittels Militärpräsenz vermittelt werden soll, weitet sich die Gewalt im Land aus.

Ja, es gibt Bundesstaaten, in denen die Gewalt eine komplexe und differenzierte Form annimmt. Das Besorgniserregende dabei ist, dass es die Ärmsten trifft – indigene Gemeinden etwa.

Was ist die Logik dahinter? Wenn jemand nicht viel hat, kann man ihm doch auch nicht viel wegnehmen.

Sie sind günstige Arbeitskräfte. Und sie sind eine vulnerabale Gruppe. Eben deshalb werden sie in die organisierte Kriminalität gedrängt: Sie sind billige Arbeitskräfte, die man ausbeuten kann. Schließlich sind sie die wehrlosesten Menschen.

Sie haben von einer »differenzierten Gewalt« gesprochen. Was meinen Sie damit?

Es gibt eine Form der Gewalt, die sichtbarer ist als andere: die »rote Nachricht« (Meldungen über Schießereien und Tötungen, Anm. d. Red.). Diese Gewalt, die auf den Straßen stattfindet, verkauft sich am besten. Das wissen die Medien. Dennoch existieren viele andere Formen: Gewalt gegen Frauen oder das gewaltsame Verschwindenlassen. An den Grenzen kommt es zu Gewalt gegenüber Migranten. Dann ist da noch die Gewalt gegen indigene Gruppen, die sich organisieren und demonstrieren, um Megaprojekte zu verhindern.

In Michoacán ist auch ein Anstieg brutaler Gewaltformen zu verzeichnen: Morde mit vorheriger Folter, Zerstückelungen, gewaltsames Verschwindenlassen. Was motiviert die Täter hierzu? Wenn jemand lästig wird, warum reicht dann ein »normaler« Mord nicht aus?

Dahinter steckt wahrscheinlich das Schüren von Angst und die Demobilisierung von Organisationen und Menschenrechtsverteidigern. Das ist die einzige Logik, die ich dahinter sehe: Angst erzeugen. Denn sie funktioniert. Wenn man erfährt, dass jemand verschwunden ist, das Foto eines Leichenteils oder eines Kopfes sieht, dann spürt man zunächst einmal Angst. Danach die Botschaft, die damit gesendet wird: Sucht nicht, organisiert euch nicht, denn sonst passiert euch genau das. Die Gewalt in Mexiko ist in diesem Sinne komplexer geworden und hat sich perfektioniert. In Mexiko haben wir es mit einer Maschinerie des Todes zu tun. Die Codes, die vor Jahren zwischen den Clans und den Kartellen bestanden haben, sind verloren gegangen. Hinrichtungen vor einem Krankenhaus, das Töten von Familien, Onkels und Tanten oder Kindern – es gibt keinen Kodex mehr, der eingehalten wird. Es ist die totale Gesetzlosigkeit.

Gewalt scheint also eine Form der Kommunikation zu sein.

Für die Kriminellen scheint es so zu sein. Diese Form der Kommunikation wirkt sich aber auch sehr stark auf die Bürger aus, die hier leben. Und sie erzeugt Angst. Eine Angst, die lähmt.

Was soll mit dieser Angst konkret erreicht werden?

Die Unterdrückung der sozialen Organisierung, die Behinderung der Verteidigung von Rechten – und man will Hemmungen erzeugen, öffentliche Räume zu nutzen oder auf die Straße zu gehen.

Kürzlich wurde die Rekordzahl der 100000 Verschwundenen überschritten. Darunter sind Kleinkinder, Großmütter, Familienväter. Was ist die Logik dahinter, wer verschleppt wird?

Was das Thema der Verschwundenen angeht, existiert keine Logik mehr. In den 70ern, während des sogenannten Schmutzigen Krieges, gab es ein politisches Motiv. Seit den 2000ern, vor allem seit der Ausrufung des Krieges gegen die Drogen, hat sich diese zuvor sehr klare Logik stark gewandelt. Jetzt gibt es verschiedene Akteure aus der organisierten Kriminalität. Aber auch die Profile der Verschwundenen sind nicht eindeutig. Es reicht von Kindern über Männer und Frauen bis hin zu Großeltern. Das hat es auch sehr kompliziert gemacht, das Verschwindenlassen als soziales Problem zu verstehen. Ein klares Muster existiert nicht. Da kommen wir wieder auf die differenzierte Gewalt zu sprechen: Was das Verschwindenlassen von Frauen angeht, ist sexueller Missbrauch und Menschenhandel ein Erklärungsansatz.

Aber ein drei Monate altes Baby etwa kann kein rivalisierendes Kartell-Mitglied sein oder zwangsprostituiert werden.

Das ist klar. In diesem Fall wird oft von Organraub und Handel mit Organen ausgegangen.

Fassen wir zusammen: Wir haben einen bewaffneten Konflikt, die Gewalt nimmt in Quantität und Qualität weiter zu, das Wort Krieg wird jedoch nicht in den Mund genommen. Wir haben viele verschiedene Akteure ohne konkrete Ziele außer Gewinnmaximierung und Machthunger. Wir haben keine ersichtliche, nachvollziehbare Logik hinter der Gewalt und maßlosen Brutalität. Alles erscheint vage, unkonkret, wie in Nebel gehüllt.

So ist es. Tatsächlich ist das, was gerade in Mexiko passiert, für viele Beobachter ein »Konflikt der neuen Art«. Es kämpfen nicht mehr zwei Seiten gegeneinander, sondern viele. Und es gibt unzählige Interessen, die alle mit dem Streit um Ressourcen in einem bestimmten Gebiet zusammenhängen.

Macht Ihnen die neue Gesetzesinitiative Hoffnung, die zurzeit erarbeitet wird?

Nein.

Das kam schnell und entschlossen. Warum nicht?

Mit dem Gesetz an sich wird sich gar nichts ändern. Manchmal geht es einfach darum, dieses erreichte Minimum, das wir haben, nicht zu verlieren; in diesem Fall den staatlichen Schutzmechanismus. Auch wenn er viele Mängel und Schwierigkeiten aufweist. Aber immerhin ist es ein Instrument, das wir in diesem Kampf zur Verfügung haben. Denn er hat vielen Menschen das Leben gerettet. Das ist eine Tatsache.

Aber lohnt es sich überhaupt, für diesen Kampf sein Leben zu riskieren?

Nein. Eigentlich nicht.

Sie machen es trotzdem.

Ich denke nicht, dass ich mein Leben riskiere. Also ich versuche zu denken, dass es nicht so ist. Ich habe nicht dasselbe Risiko wie beispielsweise eine Mutter, die ihre verschwundenen Kinder sucht, oder ein Journalist aus Michoacán. Außerdem war das meine Entscheidung. Es gibt Menschen, die haben keine andere Option. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist, sich und andere zu verteidigen. Dementsprechend bin ich in einer privilegierten Position: Ich habe das Privileg zu wählen. Ich hoffe, dass ich noch viele Jahre weitermachen kann. Mal sehen, wie lange ich mich noch entscheiden kann.

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