Nikita Uwarow: Knast für Minecraft

Der 16-jährige Nikita Uwarow sitzt wegen virtueller Anschlagspläne im sibirischen Straflager

  • Ardy Beld
  • Lesedauer: 6 Min.
Nikita Uwarow mit seiner Mutter Anna nach dem Ende der Untersuchungshaft im Mai 2021.
Nikita Uwarow mit seiner Mutter Anna nach dem Ende der Untersuchungshaft im Mai 2021.

Frau Uwarowa, ihr Sohn Nikita verschwand vor Kurzem spurlos aus dem Straflager. Ist er mittlerweile wieder zurück? 

Nikita Uwarow

Im Sommer 2020 wurde Nikita Uwarow vom russischen Geheimdienst FSB verhaftet. Der damals 14-jährige Schüler hatte mit Freunden in seiner Heimatstadt Kansk selbstgedruckte Plakate mit der Forderung nach der Freilassung politischer Gefangener ausgehängt, auch am FSB-Büro. Tags darauf wurden sie verhaftet. Als Geheimdienstler die Handys der Jugendlichen durchsuchten, stellten sie fest, dass die Schüler das örtliche FSB-Gebäude im Computerspiel Minecraft nachbauen und sprengen wollten. Anschließend hieß es, die Minderjährigen sollen den Umgang mit Sprengstoff für einen Terroranschlag geübt haben. Nikita verbrachte bis Mai 2021 elf Monate in Untersuchungshaft. Im Februar 2022 verurteilte ein Militärgericht den Schüler zu fünf Jahren Straflager. Mitte März verschwand er und tauchte erst einige Tage später in einem Krankenhaus wieder auf. »nd« sprach mit seiner Mutter Anna Uwarowa.

Nikita wurde wegen Augenproblemen im Krankenhaus behandelt und danach zuerst in eine Untersuchungshaftanstalt gebracht. Das ist die normale Prozedur in solchen Fällen. Ich bin hingegangen und habe zwei Stunden lang durch die Scheibe mit ihm sprechen dürfen. Nikita gefiel es im Krankenhaus. Er sagte, er wäre dort länger geblieben, wenn es nach ihm ginge (lacht), der Tagesablauf und die Bedingungen waren ganz anders als im Lager, es gab sogar eine Stunde Mittagsruhe, einen Fernseher und normales Essen … 

Nach der Untersuchungshaft hätten Sie im Mai 2021 mit Nikita ins Ausland fliehen können. Eine vertane Chance? 

Um ehrlich zu sein, habe ich darüber nachgedacht, aber ich hatte auch Angst. Angst, wieder gegen das Gesetz zu verstoßen. Im Nachhinein betrachtet hätten wir es natürlich tun sollen. Nikita war auf jeden Fall dafür.

Ihr minderjähriger Sohn wurde von der Polizei befragt, obwohl Sie nicht dabei waren. Das widerspricht auch in Russland dem Gesetz. Wie hat der Anwalt reagiert?

Natürlich hat die Verteidigung darauf hingewiesen, dass das Vorgehen nicht korrekt war. Der Richter entschied jedoch, dass alles gesetzeskonform sei. In den ersten Stunden wurden die Jungen nur verhört, unter Druck gesetzt, die Telefone weggenommen. Ich wusste nicht einmal, dass Nikita verhaftet worden war.

Es sind mehrere Versionen im Umlauf. Wie genau verlief die Verhaftung?

Nachdem sie nachts Plakate für die Freilassung politischer Gefangener geklebt hatten, erhielten sie tagsüber eine Nachricht von einem lokalen Aktivisten, den sie einen Monat zuvor über soziale Medien kennengelernt hatten. Er schrieb: ›Wart ihr das gestern Abend?‹ Sie antworteten: ›Ja, das waren wir.‹ Er bat sie daraufhin um ein Treffen gegen sechs Uhr abends. Dort wurden alle verhaftet. 

Wer war dieser Aktivist? Ein Anarchist, wie der FSB behauptet?

Nein, das glaube ich nicht. Er war auch schon etwas älter. Er gehörte nicht wirklich dazu. Die Gruppe bestand aus meinem Sohn und vier anderen Jungs. Sie interessierten sich nicht nur für Anarchismus, sondern für verschiedene politische Strömungen. Einige hatten auch kommunistische Ideen.

Warum wurde Nikita von einem Militärgericht verurteilt? 

In Russland müssen Terroristen von einem Militärgericht verurteilt werden. Das erst vor Kurzem geänderte Terrorismusgesetz kann bereits ab 14 Jahren angewendet werden.

Woher kommt dieser Hass von Gericht, Polizei und FSB gegen 14-jährige Schüler?

Es gab keinen Hass. Diese Beamten wollten lediglich zeigen, wie wichtig sie sind. Und ihre Statistik aufpolieren. Sie wollten zeigen, dass sie durch ihre Bemühungen einen Terroranschlag verhindern konnten. Für diese Leute bedeutete das Aufstieg und Beförderung. Es war ihr großer Auftritt. Es wurden alle Register gezogen, um einen richtigen Kriminalfall zu kreieren. Innerhalb von drei Tagen war die Sache im Kasten.

Gab es in der Schule keinen einzigen Lehrer, der sich für Nikita eingesetzt hat?

Alle waren verängstigt. Die Sozialpädagogin, die ich sehr gut kenne, war immer voller Lob über Nikita. Als ich sie fragte, ob sie eine positive Einschätzung schreiben kann, sagte sie zu. Später erfuhr ich, dass meine Bitte an sie direkt an die Kriminalpolizei weitergeleitet wurde. Die erste Beurteilung der Schule war schrecklich negativ. Die Klassenlehrerin erzählte mir, dass ihr positives Schreiben von der Schulleitung zerrissen worden war. Selbst eine Kinderpsychologin aus Krasnojarsk konnte später nicht mehr zu unseren Gunsten aussagen, weil sie zum Gerichtstermin angeblich Corona hatte.

Die Schüler sollen in einem leeren Gebäude mit Sprengstoff geübt haben. 

Die Jungs hatten tatsächlich eine Aufnahme auf ihren Handys, die zeigte, wie sie in einem leerstehenden Gebäude Flaschen gegen eine Wand werfen. Sie lachen und haben jede Menge Spaß. In Verbindung mit ihrem politischen Interesse und ihrer Kritik an der Regierung hat der FSB diese Aufnahme offensichtlich sehr gut genutzt. Für sie war es der Beweis für die Vorbereitung eines Terroranschlags.

Wurde diese Aufnahme in sozialen Medien veröffentlicht?

Nein, die Geheimdienstler fanden die Aufnahmen, als sie die Handys durchsuchten. Wären sie nicht erwischt worden, hätte es niemand je erfahren. Nikita sprach viel über Freiheit. Er reflektierte unsere Gesellschaft. Aber ich denke, das ist völlig normal. In diesem Alter fangen viele Kinder an, über Politik nachzudenken und darüber, wie die Welt funktioniert.

Der Oberste Gerichtshof in Moskau hat die Berufung abgelehnt. Wie hat Nikita darauf reagiert?

Ihm war klar, dass die Berufung zu nichts führen würde. Noch am Tag zuvor hatte er dem Anwalt gesagt: ›Ich weiß, dass es so laufen wird wie immer.‹ In der Pause am Tag der Gerichtsverhandlung in Moskau sagte ich zu Nikita: ›Was für ein Wunder wäre es, wenn du jetzt plötzlich freikommen würdest.‹ Das Wunder ist leider nicht geschehen.

Konnte er im Lager wenigstens seinen Schulabschluss machen?

Nach seiner vorläufigen Freilassung hat er an seiner alten Schule die neunte Klasse abgeschlossen. Ich habe dann darauf bestanden, dass er sich an einer technischen Schule auf IT spezialisiert. Doch dann fiel das Urteil, fünf Jahre, und er kam ins Lager, wo er in die zehnte Klasse ging. Derzeit lernt er für seine Abschlussprüfungen. Er besucht auch die dortige Berufsschule, hat inzwischen ein Diplom als Gebäudereiniger (lacht) und spezialisiert sich auf Holzbearbeitung. Nach Abschluss der elften Klasse wird er im Lager arbeiten.

Hat er die Möglichkeit für eine Universitätsausbildung?

Vielleicht kann er ein Fernstudium machen, etwas im IT-Bereich. In der Tat gibt es im Lager einen Jugendlichen, der gerade ein Universitätsstudium absolviert. Der Direktor der Schule im Lager hat uns geraten, das Gleiche zu tun.

Gibt es eine Chance auf vorzeitige Entlassung?

Wir wollen keine Gelegenheit verpassen. Eine vorzeitige Entlassung ist nach Ablauf von drei Viertel der Strafe möglich. Das ist in 21 Monaten.

Sollte er dann offiziell um eine Begnadigung bitten?

Nein, das habe ich bereits selbst versucht. Ich hatte ein Begnadigungsgesuch an den russischen Präsidenten geschickt. Dann wurde der Fall wieder aufgerollt. Nachbarn wurden befragt und haben etwas Positives über Nikita erzählt. Ich dachte, alles könnte doch noch gut ausgehen. Bis ich eine offizielle Antwort aus dem Vorzimmer des Präsidenten erhielt, in der stand, dass mein Sohn sein Begnadigungsgesuch persönlich einreichen müsse. Der Anwalt zeigte Nikita dieses Schreiben zusammen mit Briefen von allen möglichen Prominenten, die ihn unterstützen, in der Hoffnung, ihn zu überzeugen. Aber es war vergeblich. Nikita sagte: ›Ich möchte keine Begnadigung beantragen.‹ Er ist sehr fest in seinen Prinzipien. Ich weiß nicht, von wem er das hat. (lacht) Er ist ein sehr guter Junge.

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