- Berlin
- 1. Mai in Berlin
Früher war mehr Krawall
Neuer schwarz-roter Senat feiert die Polizeistrategie am 1. Mai als taktische Meisterleistung
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) betont am Dienstag gleich mehrfach, wie zufrieden er mit dem Ablauf der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration ist. »Ich hatte das große Glück, das live zu erleben«, sagt Wegner nach der ersten regulären Sitzung des neuen schwarz-roten Senats. Es sei »wirklich beeindruckend« gewesen, wie »eine gut organisierte Berliner Polizei hier jegliches Gewaltaufkommen verhindert« habe.
Am Vorabend waren weit über 10.000 Menschen auf der traditionellen linksradikalen 1.-Mai-Demonstration flotten Schrittes von der Boddinstraße in Neukölln Richtung Oranienplatz in Kreuzberg gezogen. Die Veranstalter sprachen von 20.000 bis 25.000 Teilnehmern, die Polizei von etwa 12.000. Die tatsächliche Zahl dürfte, wie so häufig, irgendwo dazwischen liegen.
Auffällig war dabei, wie weitgehend störungsfrei die in der Vergangenheit für ihre Krawallträchtigkeit bekannte Demonstration verlief. Zumindest bis zum Kottbusser Tor. Hier, bei der jüngst eröffneten Polizeiwache und kurz vor dem Ziel, kam der Zug gegen 20 Uhr erst in einem fast komplett geschlossenen Polizeikessel zum Stehen, die Veranstalter lösten die Demonstration daraufhin auf.
Der Fast-Kessel habe es den Teilnehmern praktisch unmöglich gemacht, die Demonstration zu verlassen, kritisiert die Rote Hilfe. Dazu habe die Polizei in dieser Situation auch noch damit begonnen, in die Menge zu stürmen und einzelne Personen festzunehmen. »Mehrere Menschen hatten Panikattacken, es ist nur der besonnenen Reaktion der Demonstrationsteilnehmer*innen zu verdanken, dass es zu keiner Massenpanik gekommen ist«, erklärt die Rote Hilfe.
Kein Wort davon auf der ersten Senatspressekonferenz von Kai Wegner. Auch die aus der Vorgängerregierung übernommene Innensenatorin Iris Spranger (SPD) ist voll des Lobes. Nur neun Polizisten seien während der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration und im Anschluss auf den überfüllten Straßen Kreuzbergs verletzt worden, alles in allem sei man auf 67 Festnahmen gekommen. Das zeige: »Es ist ein friedlicher 1. Mai, ein friedlicher Protest und ein friedliches Feiern.«
Iris Spranger widmet sich an Wegners Seite dann auch zuvorderst der guten Verpflegung für die Polizei und der gelungenen Unterbringung der Unterstützungskräfte aus anderen Bundesländern. Darüber hinaus setzt sie in gewohnter Manier auf die argumentative Kraft des Anekdotischen. So schildert sie etwa eine Unterhaltung mit Polizisten aus Nordrhein-Westfalen: »Und die haben dann wirklich zu mir gesagt: ›Frau Spranger, sonst waren wir immer tief weit hinten eingesetzt, diesmal sind wir ganz vorn dabei und können das richtig miterleben.‹« Da lerne man ja auch dazu.
Vorn dabei und erlebnishungrig waren auch die Polizeieinheiten aus Mecklenburg-Vorpommern am späten Montagabend auf der Oranienstraße. Die Aufgabe der Einheit aus dem Norden soll darin bestanden haben, die von trink- und feierfreudigen Menschen belagerte Straße für den Autoverkehr freizuräumen. Und das tat sie: mit aggressivem Gebrüll, Pfefferspray, Schlagstöcken, Gewalt. Die Bilder gehen in den sozialen Medien viral.
Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik gibt sich am Dienstag auch auf mehrfache Pressenachfragen hin bedeckt zu den verstörenden Bildern. Geklärt werden müsse erst einmal, was den gefilmten Szenen vorausging. »Da laufen aktuell die Sachstandsaufklärungen«, sagt Slowik. Und: »Wir nehmen das sehr, sehr ernst.«
Nicht ganz so ernst nimmt die Vorfälle die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Sie nennt es »anmaßend«, sich aufgrund der Videosequenzen »ein Bild zu machen« von dem Einsatzverlauf auf der Oranienstraße. »Es wird der großartigen Leistung, die Berlins bürgerfreundliche Polizei und die Unterstützungseinheiten in den letzten zwei Tagen auf die Platte gebracht haben, auch nicht gerecht, jetzt wegen eines winzigen Ausschnitts alles ins negative Licht zu rücken«, erklärt GdP-Landeschef Stephan Weh.
Anders als die Landespolitik und die Polizeiführung will Weh angesichts von Flaschenwürfen zwar »nicht von einem friedlichen 1. Mai sprechen«. Im Großen und Ganzen sei er aber zufrieden: »Die Menschen in dieser Stadt haben ebenso wie meine Kollegen einen großen Anteil daran, dass heute die Bilder von Sonnenschein und vielen feiernden Menschen auf den Straßen überwiegen.«
Von wegen Sonnenschein, sagen die Veranstalter. »Leider blieb auch dieses Jahr die Demonstration nicht ohne Gewalt durch die Tausenden eingesetzten Polizisten«, heißt es in einer Bilanz des Revolutionären 1.-Mai-Bündnisses. Der »neue reaktionäre Senat« habe alles rund um das Kottbusser Tor »nahezu militärisch abriegeln« lassen. Ähnlich die Rote Hilfe, die von einem »Fest der staatlichen Gewalt« und einem »Schaulaufen der Repressionsbehörden« spricht.
Scharfe Kritik, insbesondere an der versuchten Räumung der Oranienstraße, kommt auch von Vasili Franco, dem innenpolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Die Aktion »war schlicht unnötig, da feiernde Menschenmassen bereits auf den Gehwegen dicht an dicht gedrängt waren«, sagt Franco zum nd-Morgennewsletter »Muckefuck«. »Die Straße wäre ohnehin nicht zu räumen gewesen und eine frühe Freigabe für den Autoverkehr hätte mehr Gefahren erzeugt als verhindert. Das Vorgehen war weder klug noch zielführend.«
Die Polizei sei letztlich von Beginn an sehr repressiv vorgegangen, sagt Niklas Schrader, der Innenexperte der Linksfraktion, zu »nd«. Ob das permanente Abfilmen der Teilnehmer oder die frühzeitige Spalierbildung beim vorderen Teil der Demonstration: »Ich habe da keine triftigen Gründe für solche Maßnahmen gesehen.«
Das Auftreten des im Vergleich zum Vorjahr um gut 500 auf nun rund 6300 Polizisten aufgestockten Apparats wirke auch deshalb überzogen, weil man eigentlich konstatieren müsse, dass früher mehr Krawall war. Schrader sagt: »Seit Jahren ist die von der Demonstration ausgehende Gewalt rückläufig. Da muss man sich dann schon die Frage stellen, ob der Einsatz von fast 6500 Polizeikräften nicht überzogen ist.«
Eine neue Qualität polizeilicher Repression im Vergleich zu den Jahren unter Rot-Grün-Rot will Schrader gleichwohl nicht erkennen. »Es war auch bisher unter Innensenatorin Spranger und davor unter ihrem Vorgänger Andreas Geisel schon so, dass viele Polizeieinsätze alles andere als deeskalierend abliefen.«
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