See you later, alligator

Krokodile in der Kanalisation, kopflose Tauben, wildgewordene Füchse. Stadttiere sind auch immer ein Spiegel der Gesellschaft

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf der Schulter. Oder so ähnlich.
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf der Schulter. Oder so ähnlich.

Man sagt: Der Ausdruck »See you later, alligator« entstand im frühen 20. Jahrhundert, als es in bourgeoisen Familien in Manhattan trendy war, den Kindern kleine Krokodile zu schenken, die dann an Leinen im Central Park spazieren geführt wurden wie Hunde. Weil die Krokodile die Kinder aber regelmäßig bissen und die Eltern beziehungsweise die Nannys müde wurden, die Bissverletzungen zu verarzten, spülten sie die kleinen Krokodile die Klos ihrer Upper-East-Side-Apartments herunter. Die heruntergespülten Reptilien trafen sich in den Katakomben, verliebten und vermehrten sich. Man sagt: Bis heute sollen in den New Yorker Abwasserkanälen Krokodile leben.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
dasnd.de/hohmann

Diese Geschichte ist ganz offensichtlich ein Gerücht. Seit einem guten Jahrhundert kursiert es in und um New York, niemand weiß, wie viel Wahrheitsgehalt in der Erzählung steckt. Ebenso wie die kleinen Krokodile in den Katakomben vervielfältigen sich diese Stadtmärchen, kreuzen sich mit anderen Oral Histories, setzen sich fort in neuen Generationen und verwaschen dabei ganz von selbst ihre Bedeutung, wie beim Stille-Post-Spiel – jeder Mund, durch den sie gehen, jede individuelle Sprache gibt ihnen einen jeweils anderen Geschmack und eine andere Zuspitzung. Die Pointe aber bleibt dieselbe: See you later, alligator.

Dasselbe passiert mit Innenstädten, die immer und immer wieder auf Touristenfotos erscheinen – und sich dabei kaum merklich verändern. Ebenso wie wenn man täglich in den Spiegel schaut und deshalb die phänotypischen Veränderungen, die der eigene Körper durchschreitet, kaum wahrnimmt. Skylines wachsen langsam und kontinuierlich, so wie Falten – außer es geschieht eine Katastrophe, ein buchstäblicher Einschnitt.

Ebenso wie ein Körper tragen auch die Innenstädte von Großstädten immer mehrere Zeitebenen gleichzeitig in sich: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie Walter Benjamin es in seinem Passagenwerk beschreibt, immer gleichermaßen an- und abwesend.

Besonders stark zeigt sich diese Allgegenwart in den Schaufenstern, die ja eigentlich immer den neuesten Trends folgen oder sie setzen sollten: Fast nie ist ein Schaufenster gänzlich »en vogue«, häufig spiegelt sich in dem leicht verzweifelten Versuch, die Gegenwart zu erfassen, auch ein Stück Geschichte wider: eine Art unfallhaftes Mode-Diorama. In dem Versuch der radikalen Zeitgenossenschaft ist man immer einen Moment zu spät dran.

Aber zurück zu den Tieren: »Die Ratten der Lüfte« nennen die Bewohnerinnen Berlins liebevoll ihre Stadttauben – es ist das Tier, das uns, abgesehen vielleicht von der Fliege oder der Kleidermotte, am häufigsten begegnet: quicklebendig, verletzt oder tot. Wir kennen ihre Körper in so ungefähr jedem Zustand, in Gesellschaft oder allein, plattgefahren, als Relief, vor der Fensterscheibe gurrend, in Paaren, in Gruppen, uns auf den Kopf kackend – oder, wie neulich als schlechtes Omen vor meiner Haustür: kopflos. Sogar die Sensibelsten unter uns haben sich nach Jahren des Lebens im Urban Jungle mittlerweile an die morbidesten Anblicke gewöhnt.

Niemand würde auf die Idee kommen, eine verstorbene oder verunglückte Berliner Stadttaube gesund zu pflegen oder gar auszustopfen. Auch die, hauptsächlich nachts aktiven, Stadtfüchse, die die Kaninchen der Kinder aus Neuköllner Hinterhöfen reißen, sind uns gleichermaßen unheimlich wie vertraut: heimlich und heimelig leben die wilden Kreaturen des urbanen Raumes unter uns (ebenso wilden Kreaturen).

Mit Haustieren gestaltet es sich alledings anders – Baudrillard beschreibt sie als eine Mischung von Objekt und Subjekt, sie sind Best Friend ebenso wie sie Eigentum sind. Ich erinnere mich, wie ich mich als Kind einmal auf die Perserkatze einer Freundin setzte, weil ich sie für ein Kuscheltier hielt: Das (robuste) Tier erhob sich unter mir, miaute autoritär und fuhr seine Krallen aus – es war widerstandsfähiger und furchteinflößender, als man es ihm in seiner Pelzigkeit zugetraut hätte. Die Bedürftigkeit des Haustieres – ganz offensichtlich nur ein Gerücht.

Eindeutig ist aber stattdessen, wie sehr wir an unseren fellüberzogenen Freund*innen hängen. Letzte Woche hörte ich beim Abendessen mit einer befreundeten Anwältin ein weiteres Gerücht, das diese These bestätigt: Einer ihrer Mandanten wurde kürzlich von einer tierlieben Richterin auf eineinhalb Jahre Haftstrafe (ohne Bewährung) verklagt, weil er im Streit die Katze seiner Frau aus dem Fenster warf. Mit ihrem spezifisch katzenfreundlichen Blick formte die Richterin die scheinbar objektive Rechtsprechung. Die Judikative ist ebenso formbar wie das Gerücht, das sich durch die Stadt zieht: Oral histories becoming reality.

For a while, crocodile.

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