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Grundrechte-Report: Besser ohne Polizei
Tödliche Polizeigewalt gegen Menschen in psychischen Ausnahmesituationen
Am 2. Mai 2022 verstarb der 47-jährige A.P. Sein Arzt am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim (ZI) hatte die Polizei gerufen, um ihn wegen akuter Eigengefährdung zurück ins ZI zu bringen. Der folgende Einsatz zweier Beamter sorgte für öffentliche Empörung: Videos zeigen, dass sie zunächst unvermittelt Pfefferspray einsetzten, P. kurz darauf bäuchlings am Boden lag, zwei Beamte über ihm knieten und ihm einer Faustschläge gegen den Kopf versetzte. P. verstarb noch am selben Tag. Laut einem Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft war die Todesursache eine »lage- und fixationsbedingte Atembehinderung mit konsekutiver Stoffwechselentgleisung in Kombination mit einem Ersticken durch eine Blutung in die oberen Atemwege«. Im Dezember 2022 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage: Für den Tod seien die Fixierung auf dem Bauch und das Nasenbluten nach den Faustschlägen zumindest mitursächlich gewesen. Daher wird einem Beamten Körperverletzung im Amt mit Todesfolge und für den Pfefferspray-Einsatz versuchte gefährliche Körperverletzung im Amt vorgeworfen. Dem zweiten Beamten wird fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen.
Am 8. August 2022 erschoss ein Polizist in Dortmund den 16-jährigen Geflüchteten Mouhamed L. Dramé. Die Polizei war von einem Betreuer einer Jugendeinrichtung gerufen worden, weil Dramé sich, vermutlich in suizidaler Absicht, ein Messer vor den Bauch hielt. Zunächst verbreitete sich die Polizeiversion, wonach der Jugendliche die Polizei angegriffen habe. Mittlerweile ist bekannt, dass er aus einer ruhigen Situation heraus ohne Vorwarnung mit Pfefferspray angegriffen wurde. Sekunden später wurden nahezu zeitgleich Taser und tödliche Schüsse aus einer Maschinenpistole abgegeben. Im September 2022 gab die Staatsanwaltschaft bekannt, sie bewerte den Einsatz als von Beginn an unverhältnismäßig, im Februar 2023 erhob sie Anklage gegen mehrere Beamt*innen. Die Vorwürfe sind Totschlag, gefährliche Körperverletzung sowie Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung.
Am 6. Oktober 2022 erlag der 64-jährige Kupa Ilunga Medard Mutombo seinen Verletzungen, nachdem er seit dem 14. September 2022 im Koma gelegen hatte. Die Beratungsstelle ReachOut und der Bruder des Verstorbenen machten den Fall öffentlich. Der 64-Jährige hatte in einem Berliner Wohnheim des Diakonischen Werkes gelebt und stand wegen einer psychischen Erkrankung unter gesetzlicher Betreuung. Drei Polizist*innen hätten ihn aufgrund eines Unterbringungsbeschlusses in die Psychiatrie bringen sollen. Laut Augenzeugenberichten sei er in Panik geraten, als er die Polizist*innen vor der Tür sah. Sie seien in sein Zimmer eingedrungen und hätten ihn zu Boden gebracht. Es sei ihm ein Knie in den Nacken gedrückt worden, es sei Blut zu sehen gewesen. Weitere 13 Beamt*innen hätten das Zimmer betreten. Der 64-Jährige habe schließlich nicht mehr geatmet und sei vor dem Wohnheim reanimiert worden, bevor er ins Krankenhaus gebracht wurde. Obwohl bei der Obduktion ein durch Sauerstoffmangel bedingter Hirnschaden festgestellt wurde, seien laut Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für äußere mechanische Gewalteinwirkung zu erkennen gewesen. Sie stellte die Ermittlungen im Mai 2023 ein.
Wen die Polizei erschießt
Diese Beschreibungen zeigen nur einen kleinen Ausschnitt: Neben Mouhamed L. Dramé wurden gemäß Recherchen der Zeitschrift CILIP/Bürgerrechte und Polizei allein im vergangenen Jahr neun weitere Menschen durch Polizeischüsse getötet, eine weitere Person beim Einsatz eines Tasers. Die Chronik umfasst nicht die Personen, die infolge von Polizeieinsätzen auf andere Art sterben, etwa einen lagebedingten Erstickungstod erleiden. Einige dieser Fälle dokumentiert die Chronik der Recherchegruppe Death in Custody, die Todesfälle von Menschen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind und sich in einer staatlichen Gewahrsamssituation befanden, auflistet. Gemeinsam ist den drei oben beschriebenen Fällen, dass die Betroffenen eine diagnostizierte psychische Krankheit hatten oder sich in einer psychischen Ausnahmesituation befanden. Auch von Rassismen waren alle drei betroffen. Zudem lag nach heutigem Kenntnisstand in den geschilderten Fällen vor der Polizeiintervention keine Fremdgefährdung vor. Vielmehr eskalierten der unvermittelte Einsatz von Pfefferspray bzw. die körperliche Gewalt die Situationen. In jedem der Fälle hätte ein gewaltloses Zugehen auf die Person dazu führen können, dass diese überlebt hätte.
Ob es in den drei Fällen zu gerichtlichen Aufarbeitungen kommt, werden die nächsten Monate zeigen. Über die dringend notwendige Aufklärung der Geschehnisse und individuelle Konsequenzen hinaus braucht es grundsätzliche Veränderungen im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Es gibt keine offiziellen Statistiken dazu, wie hoch der Anteil psychisch kranker oder auffälliger Menschen an der Gesamtheit derer ist, die von der Polizei getötet werden. Eine Auswertung der CILIP-Rohdaten ergibt jedoch, dass sich der Anteil von Todesschüssen auf Personen mit Hinweisen auf eine psychische Krankheit oder Ausnahmesituation erhöht hat. Waren es von 2001 bis 2010 rund 20 Prozent, stieg der Anteil von 2011 bis 2022 auf rund 37 Prozent, mit Schwankungen zwischen null und 75 Prozent. Ob das Phänomen tatsächlich wächst oder ob sich die Art der Analyse und der Berichterstattung über die Jahre verändert hat, lässt sich schwer sagen. Der Polizeiforscher Thomas Feltes geht davon aus, dass »[v]on den jedes Jahr von der Polizei im Einsatz getöteten Personen [...] mindestens die Hälfte, wahrscheinlich sogar deutlich mehr, psychisch gestört oder verwirrt« sind.
Medizinische Intervention statt unmittelbarem Zwang
Als Konsequenz wird häufig eine bessere Aus- und Fortbildung von Polizeibeamt*innen gefordert. Jedoch gibt es solche Maßnahmen seit Jahren, das institutionelle Wissen zur (De-)Eskalation wird aber offensichtlich nicht immer angewendet. Andere Ansätze setzen daher darauf, entsprechende Situationen ohne Polizei zu bewältigen: Bewaffnete und zum Gewalteinsatz ausgebildete Polizeibeamt*innen seien nicht die passenden Ersthelfer*innen für Menschen in einer gesundheitlichen oder sozialen Krisensituation. Bereits der Anblick von Waffen oder die Art der Ansprache können zur Eskalation beitragen.
In den USA wurden insbesondere seit dem Mord an George Floyd im Jahr 2020 viele Programme aufgelegt, die auf Kriseninterventionen unabhängig von der Polizei bauen. Viele orientieren sich an dem seit 1989 erfolgreich in Eugene, Oregon, betriebenen CAHOOTS-Programm. Dieses entsendet bei Notrufen ein Team aus Sanitäter*innen und Krisenhelfer*innen, die im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit, Obdachlosigkeit und Drogenkonsum stehen. Bei rund 17 700 Anrufen im Jahr 2019 forderten die Teams nur 311 Mal zusätzliche polizeiliche Unterstützung an. In San Francisco werden seit 2020 bei Notrufen, die in Zusammenhang mit psychischen oder drogenbezogenen Krisen stehen, unbewaffnete mobile Teams aus Sanitäter*innen, psychiatrischen Fachkräften und zivilen Berater*innen eingesetzt. Die zivilen Berater*innen (»Peer-Support«) sind Menschen, die über eigene Erfahrungen mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit oder psychischen Krisen bzw. Krankheiten verfügen.
Anstatt Budget, Bewaffnung und Befugnisse der Polizei auszuweiten, sollten öffentliche Mittel für eine umfassende, auch psychologische Gesundheitsversorgung sowie für alternative Unterstützungsmodelle in psychischen und anderen Krisensituationen eingesetzt werden. Der – mittlerweile nicht mehr gültige – Berliner Koalitionsvertrag von 2021 sah die Einrichtung eines Kriseninterventionsdienstes vor, der die Polizei in psychischen Notsituationen begleiten und bei der Deeskalation unterstützen soll. In den USA haben diese Programme zu keiner Verbesserung im Hinblick auf Gewaltanwendung geführt, sodass nun vermehrt auf Interventionen ohne Polizei gesetzt wird. Wir sollten uns diesen Zwischenschritt sparen.
Dieser Text erschien im Grundrechte-Report 2023 und wurde für den Abdruck durch die Autorin aktualisiert. Das beim S. Fischer Verlag erscheinende Buch wird herausgegeben von Rolf Gössner, Rosemarie Will, Britta Rabe, Benjamin Derin, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Lea Welsch, Rebecca Militz, Max Putzer und Rainer Rehak.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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