Rick Rubin hörte, sah und analysierte

Hypnotische Empfehlungen vom Urzeittyp: Rick Rubin hat ein Buch über den kreativen Prozess geschrieben

  • Matthias Penzel
  • Lesedauer: 6 Min.
Kein Fett und kaum Adjektive: Rick Rubin
Kein Fett und kaum Adjektive: Rick Rubin

Glaubt man den Korrespondenten vom Sunset Strip oder den Platin-Millionären der Pop/Rock-Oberliga, so ist Rick Rubins Buch »Kreativ. Die Kunst zu sein« genau die Sorte Literatur, wie sie der Musikproduzent Rubin selbst verschlungen hat. Rubin war vor allem von C. G. Jungs »Der Mensch und seine Symbole« begeistert. Sein eigenes Buch ist ein bisschen lyrisch, mit überschaubarem Vokabular ausgestattet und auf softe Weise sehr direkt, voller Dinge und Themen, die man schon längst weiß, die aber von Rubin mit Neuem verzahnt werden.

Bevor der Musikproduzent Jung gelesen habe, habe er »Unterbewusstsein und Unbewusstes für dasselbe« gehalten, bekannte er neulich in der »New York Times«. Für ihn definierte Jung »das Unbewusste als einen enormen Brunnen der Weisheit«, es sei nicht nur beschränkt auf »verdrängte Erinnerungen«. Und diese »Weisheit« ist für Rubin so kollektiv, wie Schönheit und Natur universell sind. Kann alles angezapft werden.

So denkt Rubin, so arbeitet er, so schreibt er. Knappe Sätze, eine Rhetorik wie im Buch der Bücher. Seine Message ist nicht nagelneu, aber umwerfender als die übliche Karriere- und Motivationslektüre beziehungsweise Ratgeber von Tagesschausprechern. So wie er seit den 80er Jahren Musik (von LL Cool J bis zu Lady Gaga) produziert hat, so liest sich auch sein Buch: Da wird scheinbar Unterschiedliches aufs Essenzielle reduziert. Kein Fett, kaum Adjektive: Rubins Wertungen sind sehr sparsam gesetzt. Der Erfolgsproduzent gibt keine Handlungsanweisungen, nur Empfehlungen.

Es geht »nur« um die Kunst zu sein. Wie sie entsteht. Was sie fördert oder ihr zuwiderläuft – in »78 Denkanstößen«. In knappen Soli und Improvisationen ist der Autor näher an der musikalischen Technik eines John Coltrane und am Zen des Bebop als an der Wucht Metallicas oder dem Rap von Public Enemy. Rubin liest sich so, wie er mit mittlerweile 60 Jahren aussieht: wie ein Eremit, der ewig in Höhlen hauste, der sich über Oberflächliches wie die Kleidungswahl jeglichen Gedanken versagt. Er trägt nur T-Shirts und die sind fast immer schwarz. Ein Urzeittyp, der nun langsam und von Glitter und Gift bereinigt hypnotisch darlegt, was er denkt.

Aus einem der ersten Denkanstöße, zur Einstimmung: »Die Welt pulsiert vor produktiver Energie, und alles, was auf unserem Planeten existiert, wird von dieser Energie angetrieben.« Klingt banal, fast profan, wechselt aber im nächsten Absatz schon zum Eingemachten. Zu »work« wie Werk (in der deutschen Version »Arbeit«). Danach geht es zurück zu den Bäumen, an denen Blüten und Früchte wachsen, zur Menschheit, die Kunstwerke erschafft – wie die Golden Gate Bridge, das »Weiße Album« der Beatles, »Guernica« von Picasso, die Sphinx, die Autobahn, den Kreuzschraubenzieher, das iPad ... und noch mehr. Rubin möchte einen offenen Blick herstellen. Offen wie die Ohren. Offen für alles. Das hat bei ihm eine andere Fallhöhe als das, was andere Lebensberater oder Kreativprediger so aufführen und anrühren, bei ihm spürt man tatsächlich eine »Power«.

Geboren 1963 auf Long Island als Kind einer Hausfrau und eines Schuhvertreters, immatrikulierte sich Frederick Jay Rubin an der New Yorker Universität in Philosophie und spielte ein wenig mit dem Gedanken, Jura zu studieren. Dann spielte er aber lieber in seiner Band The Pricks (übersetzbar als »Die Arschlöcher«, alternativ »Die Pimmel«) und spielte die Kassetten anderer Künstler. Sein Mitbewohner (später Regisseur von Musikvideos) und die späteren Beastie Boys hörten und schrien mit. Rubin war früh von Zauberei fasziniert und desinteressiert am Zeittotschlagen mit Alk oder Drogen: Er hörte, sah und analysierte.

Noch im Studentenwohnheim gründete er mit Russell Simmons die Plattenfirma Def Jam Records. Erste Acts kamen aus den Randbezirken – metaphorisch wie real. Was die mit Turntables und gerappten Sprüchen wollten, galt in der Branche als »Unmusik«. Verpönt, verlacht, wenn nicht verhasst. Als Geburtshelfer begleitete er Run-DMC und die Beastie Boys. Der Rap von Run-DMC beendete die noch in den 70er Jahren aufrechterhaltene Segregation von »schwarzem« Soul und »weißem« Rock. Die als Hardcore-Band gestarteten Beastie Boys schlossen auf zu Hip-Hop mit einem Fun-Punk-Ansatz. Mitte der 80er waren da schon die 90er zu erkennen: Alles geht, Crossover, Postmoderne, alles gleichberechtigt, aber nicht gleich oder einerlei. Die Neuversion von »Walk This Way« beflügelte Aerosmith in neue Höhen und katapultierte Run-DMC aus der Nische. Darüber gibt es ein Buch: »Walk This Way, Oral History« von Geoff Edgers (Blue Rider Press/Penguin 2019).

Für die Red Hot Chili Peppers besorgte Rubin den Transfer von kultig-ulkig zu Arenadauerbrennern. Niemanden sonst hat er über so viele Alben hinweg begleitet. Slayer machte er er 1986 mit »Reign In Blood« zur Stichflamme des Thrash Metal, so bleibend und unverrückbar wie Rap. Kann man sehen, wie man will, werten oder in Zahlen messen. Dem Kunstwerk ist es egal.

Für die Feuilletons war Rubins Reanimation von Johnny Cash besonders bemerkenswert, mit den »American Recordings« 1994, in deren Verlauf sich der alte, abgehalfterte Cowboy neu fand und erfand, indem er von Tod und Angst sang. Rubin hatte den »Man in Black« am abgetretenen Fußende einer langen Laufbahn aufgelesen, der Legende nach in einem Diner, wo nur ein paar Gäste Serviette und Ketchup beiseite legten, um Cash zu applaudieren. Dank Rubin bekam Cash Ruhm und Respekt für seinen Restart als ein Künstler, der Stücke von Cohen oder Cobain interpretiert, als wären es seine eigenen. Bis zu seinem Lebensende und darüber hinaus: cool. Das war ein Paradigmenwechsel, den seither jeder Alt-Star beim Fingern nach neuer Musik mindestens als Ziel bedenkt.

Explizit äußert sich Rubin in »Kreativ« zur Zusammenarbeit mit Public Enemy, AC/DC, Paul McCartney, Adele, U2, Slayer, Jay Z, Metallica, Mick Jagger, The Strokes, System of a Down, Shakira, Justin Timberlake nicht ein einziges Mal. Es gibt bei ihm keinen Klatsch, null Insights und keine schmutzige Wäsche. Wer sich für seine rund 200 Produktionen interessiert, wird gut bedient in Jake Browns Biografie »Rick Rubin. Genie im Studio« (Reclam 2023). In »Kreativ« geht es um mehr, genauer gesagt um eigentlich weniger: Rubin verstand seinen Job von Anfang an nicht als »Producer«, sondern als »Reducer«. Das breite Publikum begriff das erst so richtig bei den »American Recordings«: nicht Zeugs aufpolieren und daran rumhämmern oder -regeln, sondern weg mit allem Klimbim, auch Regeln und Erwartungen. Ran an das Eigentliche.

Womit wir wieder beim Buch wären, beim kreativen Prozess. Da ist das Universum, das Schöne, das Irre, auch in: dir. Da ist das Gefäß und da sind die Filter, die vieles zensieren. Wichtig ist das Werk. Und seine Bearbeitung: die Interferenzen, Zufälle und Unfälle. Mängel, die zu Stärken werden. Imperfektion: fast die Formel des Pop. Und vor allem: keine Angst haben, lauschen und beobachten, was im Unbewussten aufblitzt. Das Nehmen und Bearbeiten. Kein Meisterwerk verfolgen. Ob es die Öffentlichkeit wahrnimmt, ist Jacke wie Hose, ohnehin abhängig von kaum steuerbarer Aufmerksamkeit. Wenn es einen Bezug hat zum großen Ganzen, zu dem, was andere vielleicht auch sehen, aber verwerfen, dann dockt es vielleicht an. Sofort oder später. Egal, es ist – es soll nur – ein Werk sein; eins von vielen. Künstler arbeiten lebenslang.

Toll übrigens: Bei einem nur Fanatikern geläufigen Album – »De-Loused in the Comatorium« von The Mars Volta aus dem Jahr 2003 – habe Rubin, so ein ko-produzierender Musiker, eigentlich nichts gemacht, nur rumgesessen und zugehört. Zen pur.

Rick Rubin: Kreativ. Die Kunst zu sein. A. d. amerik. Engl. v. Judith Elze. O. W. Barth, 416 S., geb., 24 €.

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