Air Defender 2023: Über Klebius herrscht Krieg

Air Defender 2023, das größte Luftkampfmanöver in der Geschichte der Nato, hat begonnen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Die wollen nur spielen. Und zwar Krieg. Dazu versetzen sich die Teilnehmer von Air Defender 2023 in eine imaginäre Zukunft. Szenario: Jahrelange Konfrontation führte zum Krieg. Die fiktive östliche Militärallianz Occasus hat den kleinen unabhängigen Staat Otso überrannt. Vom Erfolg trunken, richtet sich die Eroberungsgier nun gegen Nato-Gebiet. Die Bundesrepublik ist durch die Verknappung von Energielieferungen und die Corona-Pandemie geschwächt. Hinzu kommt eine bislang nicht gekannte Inflation.

Die Machthaber von Occasus sehen ihre Zeit gekommen. Reguläre Truppen sowie Spezialkräfte der Organisation Brückner fallen ein. Raketen und Drohnen bringen Tod und Verderben. Rasch besetzen die Angreifer die gesamte Region Klebius, in der sie bereits durch hybride Kriegsführung und die Aktivierung von Sympathisanten Unruhe erzeugt hatten. Ein Viertel der Bundesrepublik ist besetzt. Ein aus der Luft unterstützter Angriffsverband rückt gerade in Richtung Rostock vor. Der dortige Hafen ist geeignet, mehr Nachschub ins Kampfgebiet zu bringen.

Nato simuliert Befreiung Ostdeutschlands

Sollte sich jemand bereits jetzt (wovon die Manöveridee offenbar ausgeht) an fiktiven roten Fahnen über Ostdeutschland ergötzen wollen – dazu wird es nicht kommen, denn: Die Nato löst gemäß Artikel 5 den Verteidigungsfall aus. Das ist der Moment, an dem Air Defender 2023 beginnt.

Im Grunde ist das größte Luftkampfmanöver in der Geschichte der Nato aus Sicht des Militärbündnisses bereits jetzt ein Erfolg, denn es gelang in sehr kurzer Zeit, Militärs aus 25 Ländern zu versammeln und 250 Flugzeuge – vor allem Kampfjets – zusammenzuziehen. Rund 100 davon kommen aus den USA. Die gastgebende Luftwaffe beteiligt sich mit 64 Maschinen: Eurofighter, Tornados, A400M-Transporter, einige A-330-Tanker sowie Hubschrauber sind dabei. Ebenso Learjets der Gesellschaft für Zieldarstellung und A-4 einer kanadischen Firma, die man als Aggressor-Maschinen buchte.

Der Einwand, ähnlich gewaltige Manöver habe die Nato bereits zu Zeiten des Kalten Krieges abgehalten, kann nicht beruhigen und lässt außer Acht: Damals hatten die USA, Großbritannien und Kanada ihre Jets direkt in Deutschland stationiert. Nun erprobte man, wie schnell sich Verbände mit all ihrem Material über Tausende Kilometer verlegen lassen. Dabei ist es letztlich egal, ob sie in Europa oder irgendwo in Asien eingesetzt werden sollen.

Weitere Übung an Russlands Grenze

Obwohl die wesentlichen Nato-Staaten einbezogen sind, läuft das Luftkriegsmanöver nicht als Bündnisübung. Es ist von Deutschland geplant und wird von Deutschland geleitet. Seit 2018 feile man an Konzepten, heißt es. Natürlich standen die Planer dabei unter dem Eindruck der russischen Krim-Okkupation und natürlich habe man den vom russischen Präsidenten befohlenen Überfall auf die gesamte Ukraine, der 2022 begann, im Blick. Doch Air Defender sei keine direkte Reaktion darauf, betont Luftwaffenchef Ingo Gerhartz. Man sei einfach nur in einer geostrategisch wichtigen Lage. Alles sei von vornherein defensiv angelegt. Was US-Generalleutnants Michael Loh, Direktors der Air National Guard, eifrig bestätigt. Deshalb habe Russland keinen Grund zur Beunruhigung. Nur ganz wenige Einsätze würden Richtung Estland und Rumänien erfolgen, es gibt nur kleine Übungsbereiche in Polen. Über Tschechien werden US-Kampfdrohnen kreisen.

Die Militärs erwähnen nicht, dass bis zum 5. Juni eine ähnliche Übung namens Arctic Challenge an Russlands Nordgrenze lief und dass aktuell rund 50 Nato-Schiffe sowie mehr als 45 Flugzeugen im Rahmen der Übung Baltops in der Ostsee versammelt sind. Aus Zeiten des Kalten Krieges kann man wissen, wie schnell aus einer Übung Missverständnisse erwachsen können. Nun tobt sogar ein heißer Krieg in Europa.

Flugverkehr wird stark beeinträchtigt

Für Air Defender 2023 hat man über Deutschland drei Flugzonen eingerichtet, die – nach Zeiten gestaffelt – für jeglichen anderen Luftverkehr gesperrt sind. Das Militär beansprucht den Himmel zwischen 2500 und 15 000 Metern Höhe. Tiefflüge soll es vor allem über dem nördlichen Brandenburg, Teilen von Mecklenburg-Vorpommern, der Ostsee sowie über den Truppenübungsplätzen Baumholder und Grafenwöhr im Süden geben.

In den kommenden zwei Wochen werden viele leiden. Allen voran der zivile Flugverkehr. Die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) spricht von »50 000 Minuten Verspätung jeden Tag« und der Flughafenverband ADV befürchtet, dass Flüge ausfallen müssen. Beispiel Schleswig-Holstein. Über dem nördlichsten Bundesland wird zwischen 16 und 20 Uhr geübt. In dieser Zeit ist der Luftraum für die Zivilen tabu. Hamburgs Flughafen hat am Dienstag in diesem Zeitraum über 30 reguläre Starts geplant. Damit nicht alles im Chaos endet, hat man nun die Aufhebung des Nachtflugverbots erwirkt. Auch am Airport Kiel rechnet man mit gravierenden Ausfällen. Das Verteidigungsministerium wiegelt ab und verweist auf Simulationen durch Eurocontrol. Die hätten generell ergeben, dass mit »keinerlei Flugausfällen«, sondern »höchstens mit Verzögerungen« zu rechnen ist.

Die Umweltbelastung ist enorm

Zu den direkten Kosten gibt es keine Aussagen und nur vage Angaben zu Umweltbelastungen. Nach Auskunft der Bundeswehr wird das Luftkriegsmanöver etwa 32 000 Tonnen des Treibhausgases CO2 erzeugen. Nach Aussagen des Umweltbundesamtes lag der gesamte deutsche Pro-Kopf-Anteil beim CO2-Ausstoß im Jahr 2020 bei 8,8 Tonnen pro Jahr. Für die Übung werden allein am Fliegerhorst Wunstorf 400 000 und 500 000 Liter Kerosin bereitgestellt – pro Tag. Ein Passagierjet vom Typ A320 mit einem maximalen Abfluggewicht von 77 Tonnen und rund 170 Passagieren an Bord könnte mit dieser Menge rund 190 Stunden lang rund um den Erdball fliegen.

Obwohl nicht scharf geschossen wird – laut wird es dennoch. Im Nordosten könnten gleichzeitig bis zu 60 Flugzeuge in der Luft sein. Es ist zu vermuten, dass bei den vor verschiedenen Stützpunkten geplanten Aktionen kaum mehr Friedensaktivisten erscheinen. Doch Protest sei wichtig, meint der Bundesausschuss Friedensratschlag, denn die Militarisierung der Öffentlichkeit, die wachsende Aufrüstungskosten und die zunehmende militärische Konfrontation seien nicht im Interesse der Bevölkerung. Luftwaffenchef Gerhartz entgegnet, das Manöver sei notwendig, »damit wir am Ende des Tages in diesem Land auch noch in Frieden und Freiheit leben können«. Und überhaupt, so der Generalleutnant: Bevor die Sommerferien beginnen, sei doch alles schon wieder vorbei.

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