Zwangsprostitution: Sklavin im 21. Jahrhundert

Shandra Woworuntu geriet in die Fänge von Menschenhändlern und wurde zur Prostitution gezwungen

  • Jaella Brockmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Die USA bleiben für sie ein ferner Traum: Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind und häufig sexuell missbraucht werden.
Die USA bleiben für sie ein ferner Traum: Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind und häufig sexuell missbraucht werden.

Ein stiller Nachmittag im Frühling in Queens, New York City. Shandra Woworuntu ist eine zierliche, energiegeladene Frau mit einem warmen Lächeln. Mit ihrem Notizbuch sitzt die 46-Jährige in einem kleinen Café und telefoniert. Sie ist beschäftigt mit der Nachbereitung einer Reise an die ukrainische Grenze, wo sie die Suche nach verschleppten ukrainischen Frauen unterstützt. Das liegt ihr besonders am Herzen, denn Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung sind auch Teil ihrer eigenen Geschichte. Die Indonesierin wurde in den USA verschleppt, versklavt und monatelang missbraucht. Nachdem sie sich befreien konnte, begann sie ihren Kampf gegen Menschenhandel. Seit 2013 hat sie Hunderte sexuell Ausgebeutete in Sicherheit gebracht und eine Organisation gegründet, die Betroffene unterstützt. Ihre Geschichte ist die einer Überlebenden, sagt sie, die sich auf einer »Reise in die Freiheit« befindet.

Verschleppt, vergewaltigt, versklavt

Mit 17 Jahren arbeitete Woworuntu in einer indonesischen Bank. Sie galt als klug, kreativ und ambitioniert. Doch dann brachen politische Unruhen aus. 1998 stürzte das Regime des autoritären Präsidenten Haji Mohamed Suharto, und Shandra Woworuntu wurde zur politischen Aktivistin.

Doch sie bemerkt schnell, dass sie damit nicht nur ihre eigene, sondern auch die Zukunft ihrer Tochter aufs Spiel setzt, und sucht im Ausland nach Arbeit. Dabei stößt die damals 24-Jährige auf eine internationale Reiseagentur, die Jobs auf der ganzen Welt anbietet, auch in die USA. »Ich dachte, ich würde die Freiheitsstatue sehen, Konzerte von Whitney Houston besuchen, die ich schon immer liebte, und Pizza essen«, erinnert sie sich. Die Tochter muss sie in Indonesien bei ihren Eltern zurücklassen, hofft jedoch, sie nach den vereinbarten sechs Monaten Anstellung wiederzusehen. Es hilft, dass Woworuntu am Flughafen von vielen anderen jungen Frauen umgeben ist, die ähnliche Hoffnungen haben: »Nach Amerika zu gehen, war für viele von uns nicht mehr als eine Fantasie«, erklärt sie.

Am 9. Juni 2001 landet Woworuntu mit einer befristeten Zeitarbeitserlaubnis in New York, wo sie von einem malaysischen Mann begrüßt wird, der sich als Johnny vorstellt. Er teilt die Mädchen in Gruppen auf. Zusammen mit einer 17-Jährigen und der 15-jährigen Nina bringt er sie zu einem Diner in Brooklyn. »Viele Menschen, Frauen und Männer, kamen hierher, um uns anzusehen. Wir waren so erschöpft und dachten uns nicht viel dabei«, erinnert sie sich.

Kurz darauf fahren Johnny und die Mädchen zu einem Haus. Dort fordert Johnny sie auf, sich auszuziehen: »Ich will eure Haut sehen«, drängt er in gebrochenem Englisch. Die junge Mutter weigert sich, woraufhin Johnny die anderen mit einer Handbewegung auffordert, den Raum zu verlassen. Mit einer Pistole an ihrem Kopf führt er Shandra Woworuntu zurück zum Auto, und sie fahren zu einem anderen Haus. Dort wird sie in einen dunklen Raum gebracht, in dem, dicht aneinandergedrängt, viele Menschen stehen. Sie bleibt ganz ruhig, vermeidet Augenkontakt. Es ist dieser Moment, als ihr bewusst wird, dass sie verschleppt worden ist und nicht fliehen kann.

Sie ist eine von rund 50 Millionen Menschen, die weltweit von Menschenhandel betroffen sind. Die Vereinten Nationen definieren ihn als Rekrutierung, Gefangennahme und Verschleppung von Menschen durch Gewalt, Betrug oder Täuschung – mit dem Ziel, sie für Profit auszubeuten. Darunter fallen auch Verbrechen wie Sklaverei und Sexhandel, von denen viele Menschen glauben, sie gehörten der Vergangenheit an, doch gibt es sie auch weiterhin im 21. Jahrhundert.

In dieser Nacht wird Shandra Woworuntu das erste Mal vergewaltigt. Danach wird sie weiterverkauft. Zunächst an eine jüdisch-orthodoxe Gemeinde in Williamsburg, dann an eine US-amerikanische Gruppierung in Bayside, deren Mitglieder teilweise Polizeiausweise bei sich tragen. Es folgen weitere Stationen: Wochenlang fahren die Menschenhändler mit ihr und den anderen Mädchen und Frauen durch verschiedene Städte zwischen Maine, New York und Florida. Das Telefon hatten die Menschenhändler ihr schon bei der Ankunft abgenommen, doch sie wissen nicht, dass sie ein kleines Loch in die Innenseite ihrer Handtasche gerissen hat: Hier versteckt sie ein Notizbuch, in dem sie akribisch die verschiedenen Wege und Ortsschilder aufzeichnet.

Shandra Woworuntu wird nicht nur ihre Freiheit genommen, sondern auch ihr Name: Sie ist jetzt Candy. Ohne Erlaubnis darf sie sich nicht in den Häusern bewegen. Selbst dann nicht, wenn sie zur Toilette muss. Tut sie es doch, wird sie geschlagen. Um den Druck auf die jungen Frauen zu erhöhen, fügen die Menschenhändler dem Missbrauch noch eine finanzielle Dimension hinzu: Sie legen fest, dass alle ihnen 30 000 Dollar für die Jobvermittlung schulden. »Vergewaltigt zu werden ist doch kein Job.« Das ist alles, was Shandra Woworuntu in diesem Moment denkt. Doch weniger als 2000 Dollar pro Tag einzunehmen bedeutet nun, kein Essen mehr zu bekommen. Alkohol und Drogen stehen hingegen jederzeit zur freien Verfügung. Die Frauen versuchen, ihren Hunger sowie den physischen und emotionalen Schmerz mit diesen Substanzen zu stillen.

Jeden Tag hofft Woworuntu, dass die Vergewaltigungen aufhören, damit sie zu ihrer Tochter zurückkehren kann. Doch es hört nicht auf. Die Freier kommen, wählen eine der Frauen, vergewaltigen sie, demütigen sie – häufig werden Videos gedreht. Einige dieser Filme sind auch heute noch auf bekannten Pornoseiten öffentlich zugänglich. Seit Jahren versucht sie schon, diese Videos aus dem Internet entfernen zu lassen, doch die Konzerne weigern sich, weil Woworuntu keine konkreten Beweise für das Fehlen ihres Einverständnisses liefern kann.

Flucht und Engagement

Es ist der Winter 2001/2002. Woworuntu war über ein halbes Jahr verschleppt. Gemeinsam mit der 15-jährigen Nina schmiedet sie einen Fluchtplan. Beide springen aus einem winzigen Badezimmerfenster im zweiten Stock: »Ich weiß nicht, wie wir das überleben konnten. Es war ein Wunder.« Dann rennen sie weg, so schnell sie können. Nina wird kurz darauf gefasst, doch Shandra Woworuntu entkommt.

Barfuß, in kurzer Hose, T-Shirt und mit ihrer Handtasche wendet sie sich an die nächste Polizeistelle. Diese weist sie ab, niemand glaubt ihr. Für Tage, vielleicht Wochen, lebt sie als Obdachlose im Central Park. Die Nächte verbringt sie in der U-Bahn, bemüht sich, nicht einzuschlafen und wieder zum Opfer zu werden. Sie ist hungrig, erschöpft und friert, doch sie ist frei.

Eines Tages fragt sie einen pensionierten Navy-Officer, ob sie ihm ihre Geschichte erzählen kann. Als sie fertig ist, weist er sie an, am nächsten Tag zur Mittagszeit an derselben Stelle auf ihn zu warten. »Und er kam zurück. Er kam wirklich zurück«, erzählt sie mit Tränen in den Augen. Sie gehen zum FBI, wo man eine Strategie gegen die Menschenhändler entwirft. Die wichtigsten Indizien sind dabei Woworuntus Kritzeleien in ihrem Notizbuch. Ein Einsatzkommando wird vorbereitet für die Aufdeckung des zu dieser Zeit größten Sexhandel-Skandals von New York. Alles geht sehr schnell. »Es war wie in einem Film«, erinnert sie sich. Die Polizei stürmt das Haus, Schüsse fallen, drei der Menschenhändler werden herausgeführt. Die zurückgebliebenen Frauen und Mädchen verlassen langsam, fast in Schockstarre, das Haus. Kurz darauf wird sie an die auf Sexhandel-Opfer spezialisierte Organisation Safe Horizon verwiesen, die ihr hilft, sich von den Strapazen zu erholen und 2004 ihre Tochter wiederzusehen. Zudem unterstützt die Organisation sie dabei, ein vorläufiges Aufenthaltsrecht zu bekommen und einen Job zu finden.

Shandra Woworuntus Albtraum ist damit – wenigstens physisch – vorbei. Doch für unzählige Menschen auf dieser Welt ist er es nicht. Deshalb ist es für sie keine Option, sich damit nicht mehr zu beschäftigen: »Wir müssen diese Geschichten hören, um zu verstehen, dass sie für viele gerade Realität sind. Dass es keine Wahl ist, versklavt zu werden.«

Heute lebt Woworuntu mit ihren beiden Kindern in New York City, wo sie die Organisation Mentari gegründet hat, die Sexhandel-Überlebende emotional, finanziell und organisatorisch bei der gesellschaftlichen Reintegration unterstützt. Sie berät Politiker und hält Vorträge. Prävention und Aufklärung sind die wichtigsten Mittel im Kampf gegen den Menschenhandel, sagt sie. Denn »sobald jemand zum Opfer wird, ist es schon zu spät«.

2014 wird sie von Chris Christie, dem damaligen Gouverneur New Jerseys, eingeladen, einer Kommission gegen Menschenhandel beizutreten; Obama beruft sie 2015 zum Mitglied einer US-weiten Kommission. Nicht zuletzt dank ihres Engagements wurde im selben Jahr ein bundesweites Gesetz verabschiedet, wonach Überlebende von Menschenhandel in den USA nun Zugang zu Sozialleistungen haben.

Die Zahl der Opfer von Menschenhandel steigt seit Jahren: seit 2016 um fast die Hälfte. Verantwortlich dafür sind unter anderem die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg, die viele Menschen anfälliger dafür gemacht haben, sexuell ausgebeutet zu werden. Shandra Woworuntus Engagement ist daher nötiger denn je.

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