Griechenland: Hunderte Tote und viele offene Fragen

Kurz vor den Wahlen waschen die griechischen Behörden ihre Hände in Unschuld

  • John Malamatinas, Thessaloniki
  • Lesedauer: 5 Min.

Die griechische Küstenwache und die europäische Migrationspolitik werden erneut auf den Prüfstand gestellt: Der Tod von vermutlich Hunderten von Geflüchteten bei einem Schiffsunglück vor der griechischen Küste vergangene Woche hat einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. »Sie haben unser Boot zum Sinken gebracht«, sagen die Migranten über die griechische Küstenwache. »Sie wollten unsere Hilfe nicht«, rechtfertigt sich die Behörde. Eine Woche nach dem schweren Bootsunglück im Mittelmeer steht nicht mehr die Suche nach Überlebenden, sondern nach den Schuldigen im Mittelpunkt.

Die Entscheidung der griechischen Küstenwache, nicht einzugreifen, hat laut »New York Times« den Verdacht aufkommen lassen, dass eine Kooperation zwischen den Schmugglern, die dafür bezahlt werden, dass sie Italien erreichen, und den griechischen Behörden, denen es lieber wäre, wenn die Geflüchteten das Problem Italiens wären, zu einer vermeidbaren Katastrophe geführt hat.

Am Montag beschloss die Küstenwache, in einer Erklärung Antworten auf bestimmte Veröffentlichungen über das Unglück von Pylos zu geben. Damit widersprach sie einem BBC-Bericht, in dem es hieß, dass »das überladene Fischerboot mindestens sieben Stunden lang nicht bewegt wurde, bevor es kenterte«. Allerdings vermeidet sie es, grundlegende Fragen zu beantworten, so zum Beispiel, was genau mit dem Seil passiert ist, das vom Boot der Küstenwache geworfen wurde.

Die Behörden behaupteten in den Tagen zuvor, sie hätten nicht eingegriffen, weil die Schmuggler dies nicht gewollt hätten und weil jeder Versuch, das Boot zu stoppen, zu einem Seeunfall hätte führen können. Außerdem sei dies alles in internationalen Gewässern geschehen. Experten für Seerecht erklärten, die griechischen Behörden hätten gegen die internationalen Verpflichtungen zur Rettung von Schiffen in Seenot verstoßen, unabhängig davon, ob ein Hilferuf vorliegt oder nicht.

Bis Montag wurden 81 Leichen geborgen und die meisten der 104 Überlebenden in ein Aufnahmezentrum nördlich von Athen gebracht, zu dem der Zugang beschränkt ist. Neun Ägypter wurden als angeblich Verantwortliche verhaftet.

In den Berichten der Überlebenden war von einem verspäteten Rettungsversuch die Rede und sogar von der Vermutung, dass die griechische Küstenwache den Untergang versehentlich verursacht habe. »Alle Überlebenden sagen, dass die griechische Küstenwache uns versenkt hat«, so ein syrischer Überlebender zur Nichtregierungsorganisation Consolidated Rescue Group. »Sie banden uns mit nur einem Seil fest. Nachdem sie das Boot festgemacht hatten, fuhren sie schnell los. Dann verlor das Boot sein Gleichgewicht [...] Zuerst kippte das Boot nach links, dann nach rechts, dann nach links und dann kenterte es.«

Die Organisation Alarm Phone hat E-Mails veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass sie die Behörden wegen des in Seenot geratenen Bootes kontaktierte. Die E-Mail ging offenbar direkt an die griechische Küstenwache, Polizeizentrale und das Ministerium für Katastrophenschutz. Die E-Mail scheint auch an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, die Nato und die europäische Grenzschutzagentur Frontex geschickt worden zu sein.

Migration war ein zentrales Thema bei den griechischen Wahlen, und zwei führende Politiker, der Konservative und vorherige Premierminister Kyriakos Mitsotakis und der Linke Alexis Tsipras, sagten Reden ab. Mitsotakis hat seine harte Migrationspolitik verteidigt und argumentiert, dass eine nachsichtigere Haltung unangemessenen Druck auf Griechenland und einen Anstieg der Todesfälle auf See verursacht habe. Er sei zudem »fassungslos« über den Untergang, der zeige, dass Europa gegen kriminelle Schlepperbanden vorgehen müsse.

In seiner Amtszeit war Mitsotakis hart gegen Migration vorgegangen und hatte die Grenzkontrollen verschärft. NGOs warfen seiner Regierung vor, Geflüchtete illegal auf See zurückzudrängen und Lager mit gefängnisähnlichen Bedingungen zu errichten. Ein von der »New York Times« verifiziertes Video zeigt, wie die griechische Küstenwache im April Asylsuchende, darunter auch Kinder, zusammentrieb und auf einem Floß auf See aussetzte.

»Ich fühle mich verpflichtet, Fragen über die Verantwortung für die Tragödie zu stellen«, sagte Alexis Tsipras in einem Fernsehinterview und betonte, dass unter Syriza dieser tödliche Schiffbruch nicht passiert wäre. Tsipras wies darauf hin, dass »Griechenland unter Syriza ein Synonym für Menschlichkeit war, wir wurden von Papst Franziskus beglückwünscht«. Er betonte, dass seine die Menschen nicht ertrinken ließe. »Auf See ist man zur Rettung verpflichtet, nicht wie auf dem Festland. Auf dem Meer kann man keine Zäune errichten. Man kann die Grenzen nicht sehen, aber das heißt nicht, dass sie nicht existieren. Man hat die Pflicht, Menschen zu retten«, so Tsipras.

Ohne konkret auf die Anschuldigungen einzugehen, erklärte Mitsotakis bei einem Wahlkampfbesuch in Chalkidiki: »Wir werden diejenigen dem Urteil der Bürger überlassen, die bei jeder Gelegenheit, anstatt das Land zu verteidigen, das Land ins Visier nehmen und letztlich der türkischen Propaganda Argumente liefern.« Er rief die Wähler auf, ihre Ohren zu verschließen und wie bei den Wahlen am 21. Mai ihre Stimmen der Partei Nea Dimokratia zu geben.

Wie das Zugunglück in Tempe im März zeigt das jüngste Unglück die gespaltene Gesellschaft Griechenlands. Ein Großteil der staatstreuen Medien – allen voran Fernsehsender wie Skai TV – werden nicht müde zu erwähnen, dass das Unglück in internationalen Gewässern geschehen sei und ein Eingriff lediglich auf Hilferuf des Schiffs erfolgen könne. Die politische Opposition um Syriza wird es erneut schwer haben, die Hegemonie von Mitsotakis’ Apparat zu gefährden.

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