Die Hoffnung bleibt

Timothy Garton Ash hat eine persönliche Geschichte von Europa verfasst

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

Geschichtsschreibung ist immer subjektiv. Wenn sie auf eigenem Erleben beruht, aber auch zugleich Chronistenpflicht anstrebt, kann die jeweilig eigene Erfahrung trotzdem von dem abweichen, was wirklich geschah. Dieser Gefahr unterliegt der 1955 geborene Oxford-Historiker Timothy Garton Ash jedoch nicht. Zeitlebens hat er wie ein Reporter das eben selbst Erlebte notiert und sachkundig in einen stetig erweiterten Zusammenhang gestellt.

Jetzt hat Ash seine Obsession für »Europa« zu seiner persönlichen Geschichte montiert. Ein Glanzstück der Historiografie, von der Europäer, aber auch jene lernen können, die momentan – oft vergeblich – an Europas Türen klopfen. Eine bemerkenswerte Erkenntnis aus der Lektüre seines Buches ist beispielsweise, dass die größten proeuropäischen Demonstrationen nicht in Paris, Berlin oder Rom stattfanden, sondern in London und in Kiew – einerseits gegen den Austritt aus der Europäischen Union, andererseits für den Eintritt in diese Gemeinschaft.

Ash zeichnet markante Etappen der Entwicklung zu dem Gebilde nach, als das sich die EU heute präsentiert. Irgendwie war er immer dabei. Das Personenregister liest sich wie ein Namedropping aus dem Who’s Who Europas. Jedes von ihm aufgezeichnete Gespräch hat Belang, jedes ist ein Beleg für das jeweils seinerzeit anstehende Problem, bringt Diskurse auf den Punkt. Aus den vielen Punkten setzt sich eine Linie zusammen, die nicht immer gerade und zielführend verläuft, aber letztlich immer wieder Hürden nimmt, die unüberwindlich schienen. Des Autors sich daraus ergebender Optimismus mag manche Leser überraschen, die diesen so nicht teilen können oder mögen. Deutlich wird, dass Ash eine schier überbordende Begeisterung und Liebe zu Europa hegt, die er aber als kritischer Zeitzeuge und Wissenschaftler zu bändigen versteht.

Atemlos verfolgen die Leserinnen und Leser das Auf und Ab von Integration und Desintegration, von Friedenseuphorie und Kriegen, von Erweiterung und Brexit-Schrumpfung. Immer stand den Frauen und Männern, die sich alle auf ihre Weise für ein vereintes Europa starkmachten, die Katastrophe der beiden Weltkriege vor Augen. Immer beschworen sie »Nie wieder«, und immer wieder gerieten diese Ideale in Gefahr.

Wiedergegeben sei hier ein fast obskur erscheinendes Gespräch, dass Ash mit dem »Oggersheimer Riesen« führte. »›Wissen Sie eigentlich‹, fragt mich Helmut Kohl, ›dass Sie dem direkten Nachfolger von Adolf Hitler gegenübersitzen?‹ Der Bundeskanzler fuhr fort: ›Das gefällt mir nicht, aber so ist es nun einmal.‹« Der Autor erklärt: »Seine Vorgänger waren Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Er, Kohl, war der erste Kanzler eines vereinten Deutschland seit Hitler.«

Das sahen auch andere so, weite Teile der Bevölkerung sowie der Politiker der Nachbarländer. Vielleicht »schluckten« sie die Vereinigung der zwei deutschen Staaten 1990 nur, weil die Bundesregierung seinerzeit zu Konzessionen bereit war, unter anderem, wenn auch ein Jahrzehnt später, die D-Mark für den Euro »opferte«. Ash bekennt, er sei früher selbst ein Skeptiker der gemeinsamen Währung gewesen, später jedoch glücklich, bei seinen vielen Reisen nicht immer Wechselstuben aufsuchen zu müssen. Die Zufriedenheit teilt er gewiss mit der Mehrheit der vor allem reiselustigen Europäer.

Ausführlich befasst Ash sich mit dem Brexit. Seine Enttäuschung verhehlt er nicht. Er hatte mit der Feder für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestritten – und verloren. Es ist, neben dem Schlusskapitel über den Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine das vielleicht traurigste seines insgesamt optimistischen Buches. Es schließt mit den Worten: »In Anlehnung an Churchills berühmte Bemerkung über die Demokratie könnte man sagen, dass dies das denkbar schlechteste Europa ist, abgesehen von all den anderen Europas, an denen man sich von Zeit zu Zeit versucht hat. Es hat sehr wohl Sinn, ein freies Europa zu verteidigen, zu verbessern und zu erweitern. Es ist eine Sache, die unsere Hoffnung lohnt.«

Daran anknüpfend sei hier gehofft, dass sich die EU in ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik besinnt, sich alsbald menschlicher, barmherziger, gerechter zeigt.

Timothy Garton Ash: Europa – Eine persönliche Geschichte. A. d. Engl. v. Andreas Wirthensohn. Hanser, 448 S., geb., 34 €.

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