Zuwanderung: »Man lässt sie nicht in die Gemeinschaft«

Der Neurobiologe Gerald Hüther über Schwierigkeiten bei der Integration von jungen Geflüchteten

  • Interview: Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 8 Min.

Herr Hüther, wenn Jungen auf die Welt kommen, sind sie bekanntlich erst einmal das schwache Gechlecht. Mädchen haben oft einen besseren Start. Kann es sein, dass Männer deshalb in ihrem späteren Leben manipulierbarer sind als Frauen?

Nein, das ist wohl nur bei Männern so, die besonders bedürftig geworden sind. Das kann aus zwei Gründen geschehen: Einmal, weil sie die Anerkennung, die sie von ihrem Elternhaus gebraucht hätten, nicht bekommen haben, um die Stärke eines liebenden Mannes herauszubilden. Zum anderen werden sie bedürftig, weil sie sich dann auf der Suche nach Halt stark an dem orientieren, was in der jeweiligen Gesellschaft besonders honoriert und ihnen als Vorbild dient.

Interview

Gerald Hüther, 72,ist Neurobiologe und Gründer der Akademie für Potenzialentfaltung in Göttingen und der Initiative »Männer für morgen«. Er schrieb zahlreiche, populärwissenschaftliche Bücher, darunter das Buch »Männer – das schwache Geschlecht und sein Gehirn«. In seinen Forschungen fand er heraus, dass die Ursachen der meisten psychischen Störungen beim Menschen nicht im Gehirn zu suchen sind, sondern in ungünstigen und krankmachenden Beziehungserfahrungen.

Und was wäre wünschenswert für eine Gesellschaft?

Das Beste ist doch, wenn ein Mann es schafft, liebevoll mit seinen Nächsten umzugehen. Wenn es in männlichen Peergroups zum Beispiel ein Zeichen von Großartigkeit wäre, einem kleinen Mädchen auf dem Spielplatz zu helfen, dann würden Jungs für diese Anerkennung in ihrer Peergroup genau das tun. Es gibt aber noch eine zweite Ursache, warum Männer sich so aufspielen, und das ist die Art des sexuellen Auswahlverfahrens der Frauen. So wie die weiblichen Pfauen am liebsten einen Pfau mit einem riesigen, bunten Schwanz wählen, scheinen Frauen für die Aufzucht ihrer Kinder Männer zu bevorzugen, die sich mit besonderen Funktionen und Rollen hervortun. Sei es ein Durchsetzungsvermögen, patriarchales Gehabe oder hohe Positionen im Beruf.

Das heißt, Männer orientieren sich mehr an äußerer Anerkennung – auch in Partnerschaften?

Was in Partnerschaften passiert, ist eng damit verknüpft, welche Erfahrungen diese Männer in ihren Herkunftsfamilien und unterschiedlichen Kulturen gemacht haben. Wenn ich Glück habe, finde ich in einer Partnerschaft ein Gegenüber, das ein unbedingtes Interesse an meiner Entfaltung hat. Sehr häufig findet man in einer Partnerschaft aber jemanden, der einen braucht im Sinne von »I can’t live any longer without you«– das ist aber keine Liebe und auch keine Stärkung. Das ist Abhängigkeit. Der Partner wird dann wie ein Objekt benutzt, aber nicht geliebt.

Es bräuchte die ehrliche Suche nach dem, worauf es im Leben wirklich ankommt. Wir haben uns in der Vergangenheit oft von Besitzstandswahrern leiten lassen. Es könnte aber sein, dass das völlig falsch ist. Deshalb wäre es nicht schlecht, wenn sich auch in unserer westlichen Welt Menschen auf den Weg machen würden, um sich zu fragen, wie sie eigentlich leben und ihre Zukunft gestalten wollen. Was sie tun wollen, damit sich ihre Kinder entfalten können. Diese Fragen werden bisher zu wenig gestellt.

Sind Zukunftswerkstätten oder Bürgerforen geeignete Podien, um darüber zu diskutieren?

Sie erfordern primär mündige Bürger. Mündigkeit hat nichts mit Wissen zu tun, sondern mit einer inneren Haltung, die wir uns im Laufe unseres Lebens durch unsere Erfahrungen aneignen. Wenn ich immer nur die Erfahrung mache, ohnehin nichts mitbestimmen zu können und ich die Ansichten meiner Peergroup teilen muss, um dazuzugehören, dann trägt das nicht dazu bei, dass ich zu einem Bürger werde, der sich seiner Würde bewusst und nicht mehr verführbar ist. Mündige Bürger können nur hervorgebracht werden, indem sie von klein auf immer wieder feststellen, dass es auf sie ankommt, sie für das eigene Leben verantwortlich sind und es keine Person gibt, an die sie diese Verantwortung abgeben könnten. Das Gehirn strukturiert sich nach den Lösungen, die wir für Probleme finden.

In einer Ausnahmesituation befinden jene, die auf der Flucht sind. Für sie zählt erst mal nur das Überleben. Mindestens 30 Prozent der Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, sind minderjährige, überwiegend adoleszente Jungs. Die meisten sind unbegleitet. Sobald sie 18 Jahre alt geworden sind, werden diese Unbegleiteten in Deutschland aus den Jugendhilfemaßnahmen herausgenommen und bei den Erwachsenen untergebracht – zumeist ohne weitere Orientierung und Ansprache. Wie müsste man ihnen begegnen, um sie besser zu integrieren?

Zunächst müsste man verstehen, was für diese minderjährigen und adoleszenten Jungs und jungen Männer eigentlich bedeutsam ist. Viele von ihnen haben schwerste, zum Teil kriegerische Traumatisierungen erlitten. Manche sind schon seit Jahren auf der Flucht, und manche haben auch in ihrem Elternhaus nichts Gutes erlebt oder sind von dort weggeschickt worden, um ihre Eltern zu versorgen, sobald sie im Westen angekommen sind. Wenn also junge, unbegleitete Geflüchtete zu uns kommen, dann sollten sie im besten Fall in einem Kinderdorf untergebracht werden. Für Kinder und Jugendliche, die keine Eltern mehr haben oder in ihren Herkunftsfamilien nicht bleiben können, haben wir solche Einrichtungen schon seit Jahrzehnten.

Die Beweggründe, warum junge Menschen geflohen oder alleinreisend sind, sind sehr unterschiedlich.

Das ist richtig. Diejenigen, die hier als minderjährige, adoleszente und unbegleitete Geflüchtete ankommen, kann man daher niemals alle in einen Topf werfen: Jede Maßnahme, die man macht, kann für einen Teil dieser Jungs und jungen Männer völlig falsch sein und das Problem noch verschlimmern. Retraumatisierungen können leicht hervorgerufen werden.

Was wäre das Schlimmste, das man im Umgang mit den heranwachsenden und jungen Männern tun könnte?

Das Schlimmste ist, wenn diese jungen Männer irgendwo hingebracht werden und dann erfahren, dass die Menschen des Aufnahmelandes sie nicht haben wollen. Das erleben sie bereits bei den Aufnahmeprozeduren, die sie durchlaufen müssen und bei denen geprüft wird, ob sie es überhaupt wert sind, in dieses Land aufgenommen zu werden.

Und dann erfüllen sich die Vorstellungen oft nicht, die diese Heranwachsenden haben. Sie können auch Erwartungen, die von ihren Familien gestellt werden, nicht entsprechen, weil sie ihr Leben nicht gestalten können. Was geschieht dann mit ihnen?

Wir sehen es an unseren eigenen Kindern, wenn deren Grundbedürfnisse verletzt werden, wenn sie sich anstrengen können, wie sie wollen und dennoch nicht anerkannt werden. Was wir am häufigsten sehen, ist dann, dass diese Kinder damit beginnen, ihre eigenen Grundbedürfnisse zu unterdrücken: Sie wollen irgendwann gar nicht mehr dazugehören, sie wollen auch nichts mehr beitragen. Es ist nun einmal ein Grundbedürfnis, dazuzugehören, sich zu integrieren und etwas zu schaffen, etwas autonom gestalten zu können. Wenn diese Möglichkeiten versagt bleiben, nämlich Teil dieser Gesellschaft zu werden und unter der dort lebenden Bevölkerung einen Platz zu finden, kann man zusehen, was geschieht.

Geht dann auch das Mitgefühl verloren?

Ja. Wozu braucht derjenige noch Empathie und Mitgefühl, wenn er sowieso nichts mehr mit den anderen zu tun haben will? Die Leistungsbereitschaft, sich einzubringen, ist dann bereits im Gehirn gehemmt worden – zuerst unfreiwillig. Was aber einmal unterdrückt ist, ist weg. Das ist also keine Besonderheit migrantischer Jungs, sondern das ist auch mit einem Teil unserer Kinder während der Corona-Pandemie geschehen.

Immer wieder stehen junge Geflüchtete in den Schlagzeilen. Der Mann, der in einem Regionalzug nach Würzburg das Axt-Attentat verübt hat, oder der, der in der Würzburger Innenstadt mehrere Frauen getötet und verletzt hat, oder der in Illerkirchberg eine Schülerin erstochen hat. Jedes Attentat, das nicht verhindert werden konnte, fördert das Bild des geflüchteten jungen Mannes, der eine potenzielle Gefahr für die Gesellschaft darstellt, gegen den hart durchzugreifen sei. Was müsste getan werden, damit die Ressourcen einzelner junger Menschen nicht vollends zerstört und am Ende zu einer Gefahr für die Gesellschaft werden?

Es wird höchste Zeit, dass wir damit anfangen, ehrlich zu sein und wir nicht Geschichten aus dem Wolkenkuckucksheim erzählen, die sich dann nicht umsetzen lassen. Warum sagen die Politiker nicht ehrlich, dass es ihnen unmöglich ist, die Bedingungen für Geflüchtete so zu gestalten, wie sie notwendig wären, und sie dann aber nicht mehr gewählt würden? – Die Mehrzahl der Bürger heißen diese jungen Menschen nicht ehrlich willkommen, da kann man viel an einer Willkommenskultur bauen wollen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat die Besitzstandswahrung als Sinn ihres Daseins definiert und sich darauf eingerichtet, ein eigenes Haus zu bauen, am größten und reichsten zu sein und nur für sich selbst zu sorgen. Diese Art von Bevölkerung hat ein System erzeugt, das keine Menschen gebrauchen kann, die vom Kuchen mitessen wollen. Unter solchen Bedingungen wird nichts anderes getan, als diejenigen wegzusperren, die straffällig werden.

Das ist aber nur eine kurzfristige Lösung.

Sicher. Man sollte versuchen, so schnell wie möglich die Missstände bei der Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten zu beseitigen. Dafür werden aber im Moment nicht die Ressourcen zur Verfügung gestellt. Es wäre auch nur eine vorübergehende Lösung, den jungen Menschen so schnell wie möglich Chancen zu geben, sich einzubringen, wenn sie in einer Gesellschaft ankommen, die sie nicht wirklich haben will. Dann sind sie hier zwar äußerlich integriert. Sie werden aber trotzdem nicht dazugehören. Diese Menschen werden benutzt, man lässt sie aber nicht in die Gemeinschaft. Das ist die bittere Wahrheit.

Müssten nicht auch in den Herkunftsländern die Lebensbedingungen verbessert werden?

Es werden keine besseren Bedingungen geschaffen, indem man Menschen und ihre Länder nur als Ressource betrachtet, die man ausbeuten will. Seien wir doch mal ehrlich, etwas anderes wollen wir doch gar nicht. Jahrzehntelang haben wir mit diesen Ländern eine sogenannte Entwicklungszusammenarbeit gemacht. Wenn wir uns die einmal genauer anschauen, stellen wir fest: Die Menschen wurden in eine Situation der Abhängigkeit gebracht: Sie lernten, ihre eigene Landwirtschaft zu vernachlässigen und die Segnungen der westlichen Welt zu kaufen. Dass die Menschen heute von dort fliehen, hat der Westen auch selbst zu verantworten.

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