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Entfristung: Unileitungen brauchen einen Realitätscheck
Exzellente Forschung braucht Entfristung, meint Marten Brehmer
Wer in Schule und Uni immer fleißig ist, darf sich am Ende über eine Stelle mit attraktiven Arbeitsbedingungen freuen. Dieser Lehrsatz von Karriereberatern und standesbewussten Eltern war schon immer naiv. Aber erst der Blick auf die Arbeitsbedingungen der Fleißigsten zeigt, wie sehr er an der Realität scheitert. 60 Prozent der promovierten Mitarbeiter an deutschen Hochschulen sind befristet beschäftigt. Sechs Jahre, drei Jahre, auch mal anderthalb – viele Postdoktoranden hangeln sich von Stelle zu Stelle und leben in ständiger Unsicherheit, irgendwann ohne Arbeit dazustehen.
Warum eigentlich? Innovation brauche personellen Wechsel, so die Hochschulleitungen. Für sie hat das akademische Personalkarussell eine praktische Funktion: Wieso sollte ein Mitarbeiter eine Stelle 30 Jahre lang ausfüllen, wenn in derselben Zeit auch fünf Personen mit Sechs-Jahres-Verträgen dieselbe Stelle besetzen können? So zumindest die Argumentation. Auf diesem Weg könnten mehr Personen qualifiziert werden und ihre Eignung zur Professur zeigen – in Deutschland noch immer das Endziel jeglicher wissenschaftlicher Qualifikation.
Auch dieser Glaubensgrundsatz scheitert an der Realität. Wer studiert und eine Promotion abgeschlossen hat, ist meist über 30. In dem Alter ist Unsicherheit über das weitere Berufsleben ein ausgesprochen ungünstiger Begleiter. »Die will noch ein zweites Kind, ihr scheint es ja mit der Wissenschaft nicht so ernst zu sein«, zitierte die Literaturwissenschaftlerin Constanze Baum am Montag im Wissenschaftsausschuss Lästereien, die sie über eine Kollegin gehört hatte. So offen wird es zwar selten ausgesprochen, dennoch ist allen an den Unis klar: Das bestehende System behindert die Familienplanung und schließt vor allem Frauen von Wissenschaftskarrieren aus.
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Für die Wissenschaft bedeutet dies das Gegenteil von Innovation. Denn wertvolle Perspektiven gehen so verloren. Wer zwischen Kindererziehung, Lehrtätigkeit und Bewerbung auf die nächste befristete Stelle jonglieren muss, kann sich seiner Habilitation nur eingeschränkt widmen. Langfristige Forschungsprojekte sind mit Kurzzeitverträgen kaum möglich. Wie kritische Forschung funktionieren soll, wenn die berufliche Existenz vom Wohlwollen von Geldgebern und Vorgesetzten abhängig ist, ist da noch nicht einmal einberechnet. Vor diesem Hintergrund ist es ein Rückschritt für die Wissenschaft, dass der Senat die schon beschlossene Entfristung für Postdoktoranden nun erneut verschieben will.
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