Ägypten: »Eine Republik der Angst«

Menschenrechtsaktivist Mohamed Abdel Salam spricht über repressive Politik in Ägypten

  • Interview: Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn Sie zehn Jahre zurückblicken, wie hat sich die Situation nach dem Staatsstreich des Militärs entwickelt?

Niemand innerhalb oder außerhalb Ägyptens hat damals damit gerechnet, dass es so schlimm werden würde. Und warum? Weil das Hauptaugenmerk auf dem Konflikt zwischen den bürgerlichen, liberalen und linken Bewegungen auf der einen und dem politischen Islam auf der anderen Seite lag. Der politische Islam war zweifellos eine Bedrohung für die Demokratie und die Menschenrechte. Gleichzeitig war auch die im Hintergrund wirkende Macht des Militärs eine echte Bedrohung.

Wurde das übersehen?

Die meisten Menschen waren froh über diese Transition, weil sie Angst vor dem politischen Islam hatten. Und ich stimme mit diesen Befürchtungen überein, aber es gab keine Vorbereitungen für die Zukunft. Die Militärherrschaft hat die Proteste seitens der Islamisten mit Gewalt unterbunden. Die Situation wurde noch komplizierter, als einige islamistische Gruppen und die Muslimbruderschaft begannen, Gewalt gegen staatliche Einrichtungen und religiöse Minderheiten einzusetzen.

Wie hat die Regierung reagiert?

Die Devise lautete: Wenn es um die nationale Sicherheit geht, gibt es keine Diskussion über Menschenrechte oder Demokratie. Der Leitspruch des ägyptischen Präsidenten war, ein stabiles Land zu schaffen und den Menschen Sicherheit, ein besseres Leben und eine starke Wirtschaft zu garantieren. Nach dem Sieg über den politischen Islam und die terroristischen Gruppen wandte sich die Regierung einem neuen Ziel zu: der Zivilgesellschaft, liberalen und linken Aktivisten. Viele prominente Jugendführer wie Alaa Abdel Fattah oder Ahmad Douma wurden unter dem Regime von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi inhaftiert. 2017 begann eine Welle der Sperrung unabhängiger Medien und Webseiten, inzwischen sind mehr als 500 von den Sicherheitsbehörden gesperrt. Bis heute gibt es keine offizielle Bestätigung dieser Praxis. Bei Protesten im September 2019 kam es zu Massenverhaftungen: Die Polizei nahm etwa 4000 Menschen fest und verhaftete die Aktivisten, die versuchten, eine Oppositionsliste für die Parlamentswahlen 2020 aufzustellen.

Ihre NGO Afte setzt sich für Meinungsfreiheit ein. Wie sieht es damit aus?

Viele Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie ihre kritische Meinung äußern – Linke, Liberale und Menschen ohne jede politische Orientierung. Wenn ein Tischler ein Video veröffentlicht, in dem er sich über die Preiserhöhungen beschwert, wird er ins Gefängnis gesteckt. So sieht die Menschenrechtslage in Ägypten heute aus. Es ist gängige Praxis der Sicherheitsbehörden, Menschen aus verschiedensten Klassen und Gouvernements zu verhaften, um eine tägliche Botschaft an alle zu senden: Wenn du die Politik der Regierung kritisierst, kommst du für Jahre ins Gefängnis. So ist es ihnen gelungen, eine Republik der Angst zu schaffen. Die meisten meiner Freunde veröffentlichen aus Angst keine kritischen Beiträge mehr auf Facebook oder Twitter. Wir haben Fälle mit harten Strafen, weil angeblich falsche Nachrichten veröffentlicht wurden. Und was ist eine falsche Nachricht? Einfach kritische Meinungen.

Zeigt die Regierung sich kompromissbereit?

Die ägyptische Regierung hat vor anderthalb Jahren eingeräumt, dass sie politische Reformen einleiten und die Unschuldigen freilassen muss, die wegen Meinungsäußerungen inhaftiert wurden. Präsident Abdel Fattah Al-Sisi sagte auf einer Veranstaltung: ›Wir müssen einen politischen Dialog und politische Reformen einleiten.‹ Das ist eine positive Ankündigung. Als zivilgesellschaftliche Organisation unterstützt Afte jeden Dialog innerhalb Ägyptens zwischen zivilgesellschaftlichen politischen Akteuren und der Regierung. Wir nehmen jeden Vorstoß in diese Richtung ernst, aber die Realität sieht anders aus: Die Zahl der Entlassungen aus den Gefängnissen ist geringer als die Zahl der neuen Verhaftungen. Die ägyptische Regierung lässt Hunderte von Menschen frei und verhaftet Tausende. Sie sagt: Ja, wir haben Probleme, aber wir werden Lösungen finden und sind auf dem Weg, die Demokratie und die Menschenrechte zu respektieren, aber in Wirklichkeit gibt es keine Veränderungen.

Mit Afte versuchen Sie, innerhalb des Rahmens der ägyptischen Gesetze zu agieren. Welchen Spielraum haben Sie?

Die ägyptischen Menschenrechtsorganisationen arbeiten in der Regel als gewinnorientierte Unternehmen, denn das Gesetz über die Zivilgesellschaft ist sehr repressiv und hindert jede Organisation daran, finanzielle Unterstützung zu erhalten oder frei zu agieren. Wir glauben, dass die Arbeit innerhalb dieses Rahmens dennoch der beste Weg ist, um für seine Änderung zu kämpfen. Deshalb haben wir einen Antrag auf Registrierung nach diesem Gesetz eingereicht und warten auf die Genehmigung des Ministeriums für soziale Solidarität.

Was sind die Hauptaktivitäten von Afte?

Zu unseren Instrumenten gehört in erster Linie der Rechtsbeistand für unsere Zielgruppen bei politischen Anklagen: Journalisten, Akademiker, Studenten, Blogger und Nutzer sozialer Medien. Wir arbeiten auch an strategischen Rechtsstreitigkeiten wie einer Klage gegen das Repräsentantenhaus und den Senat, die beiden Kammern des ägyptischen Parlaments, weil sie die Live-Übertragung der Parlamentssitzungen verhindern. Außerdem haben wir Urteile erwirkt zugunsten von Universitätsmitarbeitern: Die staatlichen Universitäten schicken die Ernennungsurkunde an die Sicherheitsbehörden. Wenn diese einen Namen ablehnen, bricht die Universität das Ernennungsverfahren ab. In solchen Fällen ziehen wir vor das Verwaltungsgericht und erwirken ein Urteil gegen diese illegale Praxis, damit die Person von der Universität eingestellt wird.

Machen Sie diese Fälle auch öffentlich, in Ägypten und im Ausland?

Wir sammeln Zeugenaussagen von Anwälten politischer Gefangener und Opfern von Menschenrechtsverletzungen jeder Art – gegen Medien und Akademiker, gegen die Freiheit der Kreativität – und veröffentlichen diese in Arabisch und Englisch auf unserer Webseite, senden sie auch an internationale Organisationen. Das dritte Instrument ist Forschung: Wir haben viele qualitativ hochwertige Studien veröffentlicht zu den Themen Hochschulbildung, Medienmarkt, Rechte von Journalisten, Kunstfreiheit. Damit können wir Empfehlungen zur Änderung der Politik aussprechen. Meistens reagiert die Regierung nicht auf diese Empfehlungen. Wir übermitteln viele davon auch an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und diskutieren die Menschenrechtssituation in Ägypten mit Vertretern demokratischer Regierungen und Parlamente sowie internationaler Organisationen. Gleichzeitig richten wir uns an die ägyptischen Behörden, an Parlamentarier und den nationalen Menschenrechtsrat.

Welche Unterstützung erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?

Es wäre ein guter Anfang, wenn Abkommen zwischen Ägypten und europäischen Ländern Menschenrechtskriterien berücksichtigen würden. Wenn ein deutsches Unternehmen ein Megaprojekt in Ägypten durchführt, muss es sich auch um die Rechte der ägyptischen Arbeiter kümmern. Beim Export von Waffen besteht kein Interesse an der Einhaltung der Menschenrechte; französische Unternehmen liefern sogar Überwachungstechnologien an die ägyptischen Sicherheitskräfte. Die zweite Forderung ist, die Unterstützung der Stabilität in Ägypten neu auszurichten: weg von der uneingeschränkten Unterstützung der Regierung, hin zu einer Unterstützung unter Vorbehalt – wenn die Regierung ihre Verantwortung gegenüber der Bevölkerung wahrnimmt. Wenn Sie die ägyptische Regierung unterstützen wollen, dann müssen Sie sich fragen, welche Art von Unterstützung: Ist Militärhilfe das Wichtigste für Ägypten oder ist es der Gesundheitssektor, die Bildung, Investitionen für mehr Arbeitsplätze, die Bekämpfung der Korruption in den staatlichen Institutionen? Die europäische Außenpolitik gegenüber Ägypten muss sich auf die Menschen und die Bedürfnisse der ägyptischen Bevölkerung einstellen.

Interview
Mohamed Abdel Salam 

Foto: Cyrus Salimi-Asl

Mohamed Abdel Salam (34) ist Menschenrechtsverteidiger und Politik-Analyst. Er ist geschäftsführender Direktor der NGO Association for Freedom of Thought and Expression (Afte), die seit 2006 nach ägyptischem Recht als Anwaltskanzlei registriert ist. Afte setzt sich ein für das Recht auf freie Meinungsäußerung und den Zugang zu Informationen mittels Forschung, Rechtsbeihilfe, Dokumentation und Lobbyarbeit. Im Jahr 2023 lässt sich Afte nach dem ägyptischen NGO-Gesetz registrieren.

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