Tour de France fürchtet Übergreifen der landesweiten Proteste

Demonstranten sind noch nicht zu sehen. Dennoch ist die Heimkehr der Tour nach Frankreich von der Angst vor Störungen geprägt

  • Tom Mustroph, Laruns
  • Lesedauer: 5 Min.
Letzte Generation auf Französisch: Auf den Strecken der Tour wird auch protestiert.
Letzte Generation auf Französisch: Auf den Strecken der Tour wird auch protestiert.

»Die Tour kommt nach Frankreich: Was macht die Polizei?«, fragte am Dienstag die linksliberale Tageszeitung »Liberation«. Sie bezog sich dabei ausdrücklich auf die landesweiten Proteste nach dem Mord eines Polizisten am 17-jährigen Nahel Merzouk in Nanterre am Dienstag vergangener Woche. Sie halten seitdem das ganze Land in Atem. Autos gehen in Flammen auf, Ladenlokale werden zerstört, Hunderte Menschen wurden bereits festgenommen, Dutzende Polizist*innen verletzt. Auf einen Bürgermeister wurde gar ein Mordanschlag unternommen, was zu neuerlichen Protestmärschen führte.

Die Polizeiabteilungen, die sich derzeit um die Absicherung des Radsport-Großevents Tour de France kümmert, sind ernsthaft besorgt, um die Frage von »Liberation« zu beantworten. »Dieses Jahr haben wir eine komplexe Situation wegen der diversen Proteste und Ausschreitungen«, analysierte etwa Polizeigewerkschafter Michel Corriaux. In Bezug auf die Rundfahrt versuchte er aber auch, die Gemüter ein wenig zu beruhigen: »Die Tour ist ein Event, bei dem die Ordnungskräfte es gewohnt sind, alles, was geschehen kann, auf gute Art und Weise zu kanalisieren.«

Nun, das klappt nicht immer. Als 2018 empörte Landwirte mit Traktoren und Strohballen den Parcours blockierten, ging die Polizei mit Tränengas vor. Den Bauern erging es also wie Protestierenden bei den Weltwirtschaftsgipfeln. Dort sind es vor allem linke Aktivist*innen, die unter ausufernder Polizeigewalt leiden.

Im vergangenen Jahr traf es dann auch bei der Tour de France die Klimaaktivist*innen von Derniere Renovation. Ihnen gelang es, ähnlich wie den Bäuer*innen vier Jahre zuvor, eine Etappe für kurze Zeit komplett aufzuhalten. Sie wurden von der Polizei dann recht unsanft von der Straße getragen, wie Fernsehbilder zeigten. Eine Aktivistin begründete die Aktion damals so: »Ich hätte es vorgezogen, gar nicht herzukommen. Ich würde lieber mit meinem Großvater auf der Couch sitzen und die Tour de France gucken, während die Regierung ihre Arbeit macht. Aber das macht sie nicht.«

Zwölf Monate später ist von der Regierung Emmanuel Macrons auch nicht wesentlich mehr für den Klimaschutz und gegen die Plünderung der Ressourcen dieser Welt unternommen worden. Deshalb werden neuerliche Aktionen befürchtet. »Die Tour ist enorm attraktiv. Deshalb passieren da auch immer Dinge, seien es Drohungen, Proteste oder auch die Risiken des Straßenverkehrs«, beschrieb Pierre-Yves Thouault, Vizechef der Frankreich-Rundfahrt, lokalen Medien das große Panorama.

Noch ist allerdings nicht viel geschehen, wohl auch, weil der Start in Spanien stattfand und die Tour erst am Montag nach Frankreich kam. Demonstranten waren noch nicht zu sehen. Zahlreiche Defekte legen aber nahe, dass wie im Baskenland erneut Reißzwecken auf der Straße verstreut wurden. Thouault versicherte zugleich: »Wir verfolgen die Entwicklungen im Lande sehr genau. Wir sind in permanentem Kontakt mit den Behörden. Ich rede mit ihnen morgens, mittags und abends, sowohl mit dem Innenministerium als auch den Verbindungsoffizieren hier bei der Tour und natürlich mit den Präfekturen.«

Auch sein Chef, Christian Prudhomme, setzt auf Vorsicht. »Wir stehen, wie jedes Jahr, im ständigen Austausch mit den Sicherheitsbehörden in allen Departments, durch die die Tour de France führt. Wir beobachten die Situation mit großer Aufmerksamkeit«, sagte er bereits zum Grand Depart in Bilbao im spanischen Baskenland. Was soll er auch anderes tun, als permanente Bereitschaft und Aufmerksamkeit zu signalisieren?

Die Polizei selbst rüstet auf. In Bordeaux und Libourne etwa, Etappenstädte am Freitag und Samstag, richtet sie ein temporäres Einsatzzentrum ein und bereitet auch Drohnen für Überflüge vor. Ursprünglich war das wegen der Proteste gegen die Rentenreform der Zentralregierung geplant. Jetzt kommt der ganz aktuelle Anlass dazu: der Zorn über den Mord an Nagel Merzouk.

Der beschäftigt auch einige Radprofis, vor allem die französischen. »Wir sind ja auch Bürger, nicht nur Radfahrer. Und wir sind nicht isoliert von der Welt«, sagte etwa Cofidis-Profi Guillaume Martin. Der 30-Jährige, der nebenbei ein Philosophiestudium absolviert hat, sieht in den Protesten auch einen Ausdruck für »einen Vertrauensverlust in die Autoritäten«, wie er französischen Medien diktierte. »Gewalt ist niemals gut. Umso schockierender ist, dass die Gewalt hier von der Polizei ausging«, bezog er sich auf den Todesfall in Nanterre. Und er betonte, dass auf die staatlichen Institutionen »viel Arbeit zukommen wird, das verlorene Vertrauen wiederherzustellen«. Das liegt übrigens ganz auf der Linie der »Liberation«. Die Zeitung fordert vor allem Reformen im Polizeiapparat, einen Abbau von rassistischen Vorurteilen dort sowie einen Abbau schwerer Bewaffnung und martialischer Ausrüstung.

Tom auf Tour

Tom Mustroph, Radsportautor und

Dopingexperte, berichtet zum 22. Mal

für »nd« von der Tour de France.

Die Chefs der Tour de France haben sich zu den Mehrfachkrisen der französischen Gesellschaft bisher nicht geäußert. Ihr Interesse liegt vor allem darin, die Tour möglichst störungsfrei nach Paris zu bringen. Das ist ein verständliches Unterfangen für einen Event-Veranstalter. Es wird aber auch von Jahr zu Jahr schwieriger. Und auch die Amaury Sport Organisation muss den Komplex von Protesten vielleicht nicht nur aus der Sicherheitsperspektive betrachten, wenn ihre große Sportveranstaltung weiterhin ein Rennen aller Franzosen sein soll.

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