Werbung

Horst Hiemer gestorben: Der Stämmige

Zum Tod von Horst Hiemer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Er war der Vertrackte, Listige, Bäurische, Störrische, Grüblerische bis Verstockte. Er stand selten im Mittelpunkt von Stücken, aber er wirkte prägend an deren Wesen. Inszeniert von Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz, Benno Besson und Adolf Dresen, Friedo Solter und Thomas Langhoff. Horst Hiemer war ein Künstler, dessen Komödiantsein erfolgreich an der Abschaffung der blödsinnigen schauspielerischen Standortbezeichnung der »zweiten Reihe« arbeitete. Er hatte Kraft und konnte sie als dumpfes Grollen zeigen. Seine Aura war: die Schwielen auf der Seele. Das Gutmütige blieb gutmütig, indem es das Tückische – sichtbar – in Zaum hielt; die Zartheit war mitunter harthölzern umbrettert, weil sie Furcht vor Verletzungen hatte.

Ab 1960 Deutsches Theater Berlin. Da hat man wahrlich dessen Geschichte mitgeschrieben. Hiemer war Sancho Pansa neben Jürgen Hentsch und Trude Bechmann (»Der Nachbar des Herrn Pansa«), er war Pater Joao neben Ernst Kahler und Dieter Franke (»Das Testament des Hundes«), er war ..., und jetzt stoppt schon das Abrollen der Rollen, jetzt muss man wohl eher nach Haupterklärungsworten für eine Kunstausübung suchen, die doch gar nicht zu fassen wäre in der Reihung einiger Figuren. Über 40 Jahre DT! Was spielt man da nicht alles.

Geboren wurde Hiemer 1933 im oberschlesischen Ratibor, dem heutigen polnischen Racibórz. Er hat Erinnerungen aufgeschrieben, die um den Sinn des Berufes kreisen und naturgemäß ein wenig traurig sind. Das kommt von den erfahrenen, verinnerlichten Maßstäben im Reißfeld der Zeiten. Er konnte auf engstem mimischem Raum irgendeine Ungeheuerlichkeit über die Grenze des Gewöhnlichen schieben, mit einer Robustheit, die ihm nicht abhanden gekommen wäre, selbst wenn ihm ganze Welten auf den Kopf fielen. Und jenseits der Grenze vermochte er aus der Ungeheuerlichkeit haltbar stämmig eine urkomische Sanftwut zaubern, ihr eine herrlich grobianische Witzweite geben.

In den besten Aufführungen damals spielten sozialistisches Weltbild und träumerische Weltoffenheit klug und kühn eine vieldeutige Doppelrolle. Das tilgt kein Welten- und Zeitenwechsel. Wobei unbedingt gesagt werden muss, dass Hiemers Part in der Wirklichkeit die Eindeutigkeit war. Etwa als er Anfang der 60er zu den Wenigen gehörte, die sich bei der parteipolitischen Geißelung des Intendanten und Regisseurs Wolfgang Langhoff (wegen harscher Parteikritik an Hacks’ »Sorgen und die Macht«) klar und kalkülfrei an die Seite des Gedemütigten stellten. Nun ist Hort Hiemer, dessen Spiel Eigensinn und Dienstbarkeit so schön verband, 90-jährig in Berlin gestorben.

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.