Beton im Kapitalismus: Nicht schwarz oder weiß

In seinem Buch »Beton« rekonstruiert Anselm Jappe die Geschichte des Baustoffs als Siegeszug des Kapitalismus.

  • Nikolas Lelle
  • Lesedauer: 8 Min.
Am Beton scheiden sich die Geister: Das Royal National Theatre gilt als eines der meistgeliebten und meistgehassten Gebäude in London.
Am Beton scheiden sich die Geister: Das Royal National Theatre gilt als eines der meistgeliebten und meistgehassten Gebäude in London.

Beton ist grau, roh, unansehnlich – und faszinierend. Gebäude, bei denen Beton im Vordergrund steht, sind eine Zumutung im besten Sinne. Sie spiegeln keine schöne und heile Welt vor, sondern verlangen gerade, sich dieser beschädigten Welt zu stellen.

National Theatre und Barbican in London, das Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg, das Deutsche-Bahn-Gebäude im Frankfurter Europaviertel: Viele werden scheußlich finden, was sie da sehen. Andere überzeugen diese Bauwerke dadurch, dass sie nicht verschleiern, wie und woraus sie gemacht sind, sondern gerade Stoff und Struktur offenlegen. Die Faszination des Betons reicht vom Brutalismus-Kult bis zur Verachtung des Baustoffs. Zu Letzterer tendiert offenbar auch Anselm Jappe, der in seinem Buch »Beton« dessen Entwicklungsgeschichte als »Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus« nachgeht.

Kollaps der Betonierung

Im Sommer 2018 stürzte eine Autobahnbrücke über Genua in sich zusammen. 43 Menschen kamen ums Leben. Die Brücke brach ein, wie Jappe festhält, »weil sie aus Stahlbeton gebaut war und bereits ein halbes Jahrhundert alt«. Denn Stahlbeton habe eine deutlich geringere Haltbarkeit als gemeinhin angenommen und trage eine »in seinem Wesen eingeschriebene Zerrüttung« in sich. Der Autor fragt daher, ob der Kollaps dieser Brücke nicht ein »Zeichen für die Zukunft« sein könnte, und nimmt dies zum Anlass, einen radikalen Verriss über den Beton zu schreiben: Am Beton zeige sich die Monotonie einer Gesellschaft, die von allen Qualitäten und allem Besonderen abstrahiert habe, entfremdet und ökologisch verheerend.

Jappe macht aus seiner Rekonstruktion des Betons eine Kritik des Kapitalismus, die zugleich eine Kritik der Städte sowie moderner Architektur sein will. Werden bald also noch viele andere Gebäude zerbrechen und ist das nicht vielleicht selbst »eine Folge des Zerfalls und der Auflösung der Gesellschaft«? Diese Perspektive entlehnt Jappe der marxistischen Theorie der Wertkritik, heute vertreten vor allem durch die Zeitschriften »Krisis« und »exit!«. Einer der bekanntesten Vertreter, Robert Kurz, attestierte schon 1991 einen »Kollaps der Modernisierung«. Jappe nimmt die Einsicht der Wertkritik, dass die bürgerliche Gesellschaft systematisch ihrem Zusammenbruch zuarbeitet, zu wörtlich und schießt übers Ziel hinaus. Die richtigen Punkte seiner Kapitalismus- wie Architekturkritik werden vom radikalen Gestus überdeckt.

Der Baustoff bildet für Jappe entsprechend die »perfekte Materialisation der Logik des Warenwertes. Genau wie der Wert sei der Beton eine «reductio ad unum»: Seit seinem Siegeszug würde überall und von allen nur noch mit diesem einen Stoff gebaut. Zudem verkörpere dieser Baustoff wie kein anderer «die konkrete Seite der Warenabstraktion». Das klingt wie eine Analogie, laut Jappe soll es aber keine sein. Beton ist demnach nicht wie die konkrete Seite, sie ist sie.

Kritik moderner Architektur

Nach Jappes Logik, der Beton stehe für alles Schlechte im Kapitalismus, muss das Bauen im Post-Kapitalismus sich vom Beton gelöst haben. Wie aber soll dann die gesellschaftliche Umwelt errichtet werden? Die Antwort dürfte überraschen. Denn die hier formulierte Kritik des Kapitalismus richtet sich auch gegen die «sogenannte ›moderne‹ Architektur» – wie hier gleich mit doppelter sprachlicher Distanzierung festgestellt wird. Orientierung soll ausgerechnet die «traditionelle Architektur» geben.

Um diesen Gedanken vorzubereiten, erzählt Jappe die Geschichte des Stahlbetons und seiner Befürworter*innen, dokumentiert die bekannten Umwelt- und Gesundheitsschäden, den Krieg um den Sand, der für die Herstellung gebraucht und immer knapper wird. Und er setzt den Stoff ins Verhältnis zur bürgerlichen Ordnung, die gerade Linien favorisiert, um Herrschaft zu manifestieren.

Bei all dem erfährt man viel Wissenswertes: Jappe betont etwa zu Recht die Nähe von Le Corbusier – Wegbereiter des Brutalismus und einer der bekanntesten Architekten des 20. Jahrhunderts – zu den spanischen Faschisten sowie die eugenischen und im schlechten Sinne anthropologischen Überlegungen, die zu dessen «Modulor» führten, einem vereinheitlichenden Maßsystem, das sich am menschlichen Körper orientieren sollte. Die Raumhöhe in Corbusiers berühmter Unité d’Habitation beträgt demnach nur 2,26 Meter.

Der Siegeszug des Stahlbetons ist faktisch der des Industriekapitalismus. Die frühen Vertreter*innen des Brutalismus, Alison und Peter Smithson, sprachen von dieser Architekturströmung als einer, die versuche, sich der «mass-production society» zu stellen. Stahlbeton und vor allem die Gebäude, die er prägt, hatten ihre Hochphase daher im Fordismus. Sie sind also unzweifelhaft Ausdruck einer ganz bestimmten Epoche des Kapitalismus, auch wenn Faschist*innen wie Stalinist*innen, Avantgardist*innen und Dissident*innen aller Couleur ebenfalls viel auf Stahlbeton setzten und heute der bedeutendste Teil in China verbaut wird.

In der Wertkritik von Jappe sind all diese Bewegungen dennoch nur ein Teil der Geschichte der Durchsetzung des Kapitalismus – ob sie das wollen oder nicht. Jappes Kritik an diesem Siegeszug wird also selbst abstrakt und sieht von allen Besonderheiten der Entwicklung ab. Er verwirft mit dem Beton auch alle Formen moderner Architektur.

(K)ein Zurück zur Vormoderne

Wie aber kann eine Alternative zum kapitalistischen Beton aussehen? Robert Kurz schlug in seiner Auseinandersetzung mit der Aufklärung und der ihr innewohnenden Dialektik vor, eine «emanzipatorische Antimoderne» zu erdenken, Antonio Negri sprach von einer Altermoderne. In beiden Fällen kann die Moderne nicht in Bausch und Bogen verworfen werden, sondern es muss mit ihr in der Bewegung der bestimmten Negation gebrochen und sie zugleich aufgehoben werden. Das heißt aber auch: an sie angeknüpft werden.

Jappe bricht in «Beton» eine Lanze für die «Architektur ohne Architekten». Bis ins 17. Jahrhundert sei durch Kollektive oder Handwerkergruppen gebaut worden. Passagenweise analysiert der Autor diese traditionelle Architektur, die heute in Vergessenheit geraten sei, so, als sei sie das Bauen in einer befreiten Gesellschaft, versöhnt mit Natur und Umwelt, im Dienst der Menschen, die sie bewohnen.

Sicher, die Vielfalt der Baustoffe, die früher lokal genutzt wurden, mag weniger umweltschädlich gewesen sein als das Bauen mit Stahlbeton heute. Aber wären damit die modernen Städte überhaupt möglich gewesen? Unter Bezugnahme auf Marx’ ökonomisch-philosophische Manuskripte beschreibt Jappe ein erstrebenswertes In-Einklang-Sein von Kultur und Natur. Das liest sich bisweilen melancholisch, als sei die Welt vor einigen Hundert Jahren noch ein harmonischer Ort gewesen. Selbst wenn das so wäre, es gibt kein Zurück zur Vormoderne – auch nicht im Bauen.

Das weiß an anderer Stelle auch Jappe selbst, etwa im Epilog klingt es deutlich an. Warum aber die Architektur-Moderne gänzlich verschwinden muss und nicht etwa weitergedacht werden kann – gern radikal kritisiert, aber im Namen einer anderen Moderne, keiner Vormoderne –, erschließt sich im Buch nicht. Stattdessen wird die moderne Architektur mit Elendsverwaltung und geometrischer Herrschaft gleichgesetzt.

Es wäre aber falsch, den ästhetischen Gehalt moderner Gebäude zu ignorieren. In ihnen scheint ein funktionaleres Leben auf, ein einfacheres, effizienteres, ein rational organisiertes. Das ist nicht einfach nur Ausdruck einer kapitalistischen Dynamik, sondern eben auch der Hoffnung auf ein besseres Leben. Brutalistische Gebäude sind zusätzlich durch eine Art Unversöhnlichkeit geprägt, die gerade in ihrer ästhetischen Zumutung erfahren wird. Sie sind nicht schön und romantisch nostalgisch, sondern entfremden vom Entfremdeten, um mit Adorno zu sprechen.

Die Grautöne sehen

Ausgerechnet die Favelas im brasilianischen Rio de Janeiro dienen im Buch als eines der wenigen zeitgenössischen, angeblich gelungenen Beispiele von Architektur. Ihre Strukturen würden «das gemeinschaftliche Leben» begünstigen. Schauen wir dort einmal genau hin: Der Campus der Universität von São Paolo (USP) hat enorm breite Straßen, die Gebäude liegen daher so weit auseinander, dass ein Bus die Studierenden zu ihren Fakultäten bringt. Am Haupteingang ist die Polícia Militar stationiert. Die gesamte Baustruktur ist eine Antwort der Militärdiktatur auf widerständige Studierende, die in den 60er Jahren ihren Campus noch mitten in der Stadt und mit vielen Rückzugsräumen hatten, sodass Proteste einfacher waren. Der neue Campus der USP kann mit Militärfahrzeugen eingenommen werden, Widerstand zwecklos. Beton ermöglicht das. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Das Gebäude der Architekturfakultät, von João Vilanova Artigas und Carlos Cascaldi entworfen, ist eine Antwort auf diese totalitäre Ordnung. Der gigantische Klotz ist ein Meisterwerk aus Stahlbeton und Glas. Das Gebäude hat keine Eingangstür und auch im Innern ist es durch Offenheit geprägt, durch ein Atrium, Rampen und offene Ateliers. Das Gebäude ist der Versuch, der Schließung der Diktatur eine radikale Antwort entgegenzusetzen – gebaut ebenfalls aus Beton. Hätte Jappe differenzierter geschaut, wären ihm genau solche Details nicht entgangen. Aber sein Ressentiment gegen Beton lässt ihn die Grautöne nicht sehen.

Trotzdem ist Jappes Kritik gewinnbringend zu lesen. Sein Buch liefert einen radikalen Zugang zum Verhältnis von architektonischer Moderne und Industriekapitalismus. Bisweilen überspannt der Autor aber den Bogen und verliert sich in der Melancholie angesichts längst vergangener Jahrhunderte, sodass der Ausblick wie ein Rückblick wirkt. Stattdessen wäre es angezeigt, die Qualität moderner Architektur und selbst – vielleicht gerade – brutalistischer Gebäude zu reflektieren. Sie verkörpern eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit und tragen ein Glücksversprechen in sich, das endlich eingelöst statt negiert werden muss.

Anselm Jappe: Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus. Mandelbaum, 160 S., br., 20 €.

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