Israel: Mit Vollgas nach rechts

Gil Shohat über die »Justizreform« in Israel

  • Gil Shohat
  • Lesedauer: 3 Min.

Der 24. Juli 2023 wird möglicherweise als entscheidender Tag in die politische Geschichte Israels eingehen. Am Nachmittag beschloss die Knesset die Abschaffung der »Angemessenheitsklausel«, mit der die Eingriffsmöglichkeit des Obersten Gerichts bei Regierungsentscheidungen massiv eingeschränkt, wenn nicht gar ausgehebelt wird. Am Abend versammeln sich erneut Zehntausende unter anderem auf der Kaplan Straße im Zentrum Tel Avivs, dem Symbol der seit Jahresbeginn andauernden Massenproteste der israelischen Opposition. Es herrscht Fassungslosigkeit, die sich in unterschiedlichen Formen Bahn bricht.

In der israelischen Protestbewegung, im liberalen Lager Israels insgesamt wird nun weithin vom Sieg einer korrupten Regierung gesprochen, die all das abschaffen wolle, was die liberale israelische Demokratie, ihre überparteiliche Armee und ihre dynamische Wirtschaft ausmacht. Es sind moralisch aufgeladene, an einzelne Minister*innen gerichtete Vorwürfe, die die Protestbewegung tragen und sie zu zweifellos beeindruckenden Erfolgen geführt haben – ohne dieses Durchhaltevermögen stünde es zweifellos bereits jetzt viel schlimmer um die verbliebenen Elemente der israelischen Gewaltenteilung.

Und doch ist diese Entwicklung keineswegs vom Himmel gefallen, sondern Ausdruck einer andauernden Hegemonie der politischen Rechten, an denen Teile der jetzigen Protestbewegung bis zuletzt ihren Anteil hatten. Daher verdeckt die individuelle Schuldzuweisung (einschließlich der auch unter Linksliberalen vorherrschenden Analyse, dass die Siedlerbewegung an allem schuld sei) die strukturellen Gründe, die das politische System dieses Landes immer mehr in Richtung eines rechten Autoritarismus treiben: die über 56 Jahre andauernde Duldung der Siedlungspolitik in den besetzten palästinensischen Gebieten und Ostjerusalem samt Vertreibung und Unterdrückung der lokalen Bevölkerung und die strukturelle Diskriminierung der palästinensischen Staatsbürger*innen in Israel durch den allergrößten Teil der jüdisch-israelischen Bevölkerung. Schließlich werden die Auswirkungen der sogenannten Justizreform zuerst die Minderheiten im Land sowie zuvorderst die Palästinenser*innen im Westjordanland und Gaza zu spüren bekommen. Die Instrumente, die seit 1967 in den besetzten Gebieten genutzt wurden zur Kontrolle der Palästinenser*innen, finden nun auch ihren Weg in das israelische Kernland – nicht zuletzt polizeiliche Maßnahmen, mit denen in den vergangenen Tagen gegen Demonstrierende vorgegangen wurde.

Es ist für die israelische (und internationale) Linke ermutigend, dass landesweit bei nahezu allen Protesten gegen die Regierung auch der sogenannte Anti-Besatzungsblock vertreten ist, bestehend aus Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie der sozialistischen Partei Hadasch. Er verdient die Solidarität der internationalen Linken. Der Block nutzt die aktuelle Krise der israelischen Gesellschaft, um auf die Absurdität der Situation als Besetzungsmacht aufmerksam zu machen, die gleichzeitig für sich reklamiert, die »einzige Demokratie im Nahen Osten« zu sein. Er ist daher wie ein Stachel im Fleisch dieser wichtigen Protestbewegung, die in ihrer Mehrheit jedoch ein Zurück zum alten Status quo wünscht.

Angesichts der aktuellen prekären Situation für diese bisher doch recht fragmentierte Bewegung ist es für sie wichtig, darüber nachzudenken, wie sie ihre Thesen innerhalb und außerhalb der Protestbewegung für soziale Kämpfe jenseits der nationalen Frage an die Menschen bringen kann. Viel Zeit bleibt nicht, schließlich hat etwa Itamar Ben-Gvir, Israels rechtsradikaler Minister für die nationale Sicherheit, bereits vollmundig angekündigt, dass nun »die Salatbar« der Gesetzesvorhaben eröffnet sei.

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