WM im Bogenschießen: In Berlin fliegen 50 000 Pfeile

Bei den Weltmeisterschaften geht es um Träume der Aktiven – und das Überleben der Sportart

Michelle Kroppen schießt bei der WM in Berlin im Einzel und im Mixed um das Olympiaticket für Paris.
Michelle Kroppen schießt bei der WM in Berlin im Einzel und im Mixed um das Olympiaticket für Paris.

Mete Gazoz ist ein Idol. Vor zwei Jahren gewann er in Tokio die erste olympische Medaille für die Türkei im Bogensport – als Olympiasieger stand er ganz oben auf dem Podest mit den fünf Ringen. Natürlich gehört der 24-Jährige auch bei den Weltmeisterschaften im Bogenschießen in Berlin zu den Favoriten; großer Druck oder eine besondere Anspannung ist in den Tagen der Vorbereitung auf dem Olympiagelände bei ihm nicht zu spüren.

Mittagszeit auf dem sonnenüberfluteten Maifeld: Gazoz ruft nach der ersten Trainingseinheit des Tages seine Teamkollegen zusammen. Fünf von ihnen steigen auf einen kleinen Anhänger, er selbst nimmt auf dem Sitz des davorgespannten Traktors Platz. Während hinten Selfies geschossen werden, fährt Gazoz gut gelaunt auf dem Rasen des weitläufigen Areals davon. Das deutsche Team bleibt auf dem Maifeld. Nachwuchs-Bundestrainer Freddy Siebert liefert gerade Pizza, im Schatten zwei kleiner Zelte wird gegessen. Danach geht es wieder an die Scheiben, denn die Trainingszeit ist kostbar, jeder unnötige Weg wird vermieden. Oliver Haidn muss damit leben. Der Bundestrainer ist jedoch alles andere als glücklich, dass sich sein kleines sechsköpfiges Team mit dem olympischen Recurve-Bogen nur fünf Tage lang auf der WM-Wettkampfanlage vorbereiten durfte.

Mit der Ruhe und dem guten Wetter ist es mittlerweile vorbei auf dem Maifeld: 96 Scheiben stehen aufgereiht nebeneinander. Am Montag nutzten 534 Bogenschützen aus insgesamt 80 Ländern das erste offizielle Training der Weltmeisterschaften, um sich im Nieselregen mit der Anlage vertraut zu machen. Zuerst durften die 326 Recurve-Schützen üben, danach die 208 Athletinnen und Athleten mit dem nicht olympischen Compound-Bogen. Viele kennen von früheren Weltcups in Berlin das beeindruckende Areal zwischen Olympiastadion und Glockenturm. Hier werden seit Dienstag im Einzel sowie in den Team- und Mixed-Wettbewerben die Qualifikation und die ersten K.-o.-Runden ausgeschossen. Die Resonanz ist äußerst positiv. »Es ist eine der besten Kulissen im Bogenschießen überhaupt«, fasst Bundestrainer Haidn die Reaktionen der internationalen Konkurrenz zusammen.

Michelle Kroppen ist eine der derzeit erfolgreichsten deutschen Bogenschützinnen. Während die 27-Jährige ihre Pizza isst, schwärmt sie von ihrem olympischen Erlebnis. In Tokio gewann sie zusammen mit Charline Schwarz und der im vergangenen Jahr zurückgetretenen Lisa Unruh Bronze im Teamwettbewerb. »Tränen« seien damals schon bei der Qualifikation für die Sommerspiele geflossen, erzählt Kroppen. Um den »Traum« von Olympia geht es auch in Berlin. Hier werden 24 Quotenplätze für die Spiele in Paris im kommenden Jahr vergeben. Dafür muss eine Medaille gewonnen werden: im Einzel, mit dem Team oder im Mixed-Wettbewerb. Wie groß die Herausforderung ist, beschreibt Thilo von Hagen: »In Deutschland haben wir acht Profis, in Südkorea sind es mehr als 300«, verdeutlicht der Pressereferent des Deutschen Schützenbundes (DSB) am Beispiel der führenden Recurve-Nation.

Wovon die Aktiven träumen, ist für den Verband ein fast schon überlebenswichtiges Ziel: An olympischen Teilnahmen und Erfolgen wird in Deutschland die finanzielle Förderung geknüpft. Meckern will im Bogensport niemand. Doch wie in vielen kleineren Sportarten sind die Bedingungen nicht die besten, der Aufwand aber ist groß. Bundestrainer Haidn blickt in die Zukunft: »Damit wir im Konzert der Großen auf Dauer mithalten können, benötigen wir ein Zentrum mit einer 70-Meter-Halle und einem Bogenschießplatz im Freien direkt daneben.« Das Zentrum des deutschen Bogensports ist Berlin – dort steht im Sportforum Hohenschönhausen jedoch nur eine ausgediente Schwimmhalle zur Verfügung, zur Wettkampfdistanz von 70 Metern fehlen 20 Meter. Deshalb müsse man immer wieder zu kostenintensiven Trainingslagern in die Türkei reisen. »Im letzten Winter waren wir insgesamt 40 Tage in Belek«, erzählt Haidn. Die Einladung des türkischen Teams zur exklusiven WM-Vorbereitung nach Berlin war deshalb eine Ehrensache.

»Zwei«, antwortet Maximilian Weckmüller auf die Frage, wie viele Pizzen er haben möchte, und lacht. Vertragen könnte sie der athletische 28-Jährige allemal. »Maxi stemmt beim Bankdrücken 100 Kilo«, erzählt der Bundestrainer. Kraft, Konzentration, Präzision – kann man so den Bogensport beschreiben? Alle am Tisch unter dem schützenden Zelt stimmen zu. Mehr als 50 000 Pfeile fliegen bei der WM in Berlin. Bis zu 90 000 Pfeile schießt allein ein Athlet pro Jahr, mit einem Zuggewicht zwischen 20 und 25 Kilogramm.

Als »mentale Stärke« bezeichnet Weckmüller Konzentration und Präzision. Dafür arbeitet das Team auch mit einer Psychologin zusammen, vor allem am Anfang einer jeden Saison. Denn der Schussablauf ist das Wichtigste – bis der optimale erarbeitet ist, vergehen rund zehn Wochen. Für jede Phase, vom richtigen Stand bis zum Schuss, werden mit der Psychologin acht bis zehn Schlüsselwörter erarbeitet, vier oder fünf bleiben am Ende übrig, die bei Wettkämpfen in Stresssituationen abgerufen werden. Hinzu kommt noch all das »Ergänzungstraining«, wie Haidn es nennt. Hauptsächlich aber werde geschossen, erklärt der Bundestrainer: »32 Stunden in einer 40-Stunden-Woche.«

Die Situation ist durch die vom Bundestag beschlossenen Kürzungen im Sport insgesamt nicht besser geworden. Inwieweit das Bogenschießen betroffen ist, weiß noch niemand. Dazu kommen noch ganz andere Probleme. Jüngst forderte der Jagdverband Mecklenburg-Vorpommern die gesetzliche Zulassung von Pfeil und Bogen. Heftiger Widerspruch kommt vom Schützenbund. »Der Bogen ist keine Waffe«, erklärt DSB-Pressereferent von Hagen. »Das Gegenteil würde das positive Image zerstören – und das Fernsehen kein Bogenschießen mehr übertragen.«

»Hey, ich hab dich gerade im Fernsehen gesehen«, erzählt Charline Schwarz von Nachrichten, die sie neulich von alten Schulfreunden bekam. Das war bei den deutschen Meisterschaften – mit beeindruckenden Bildern von den »Finals 2023« im Düsseldorfer Medienhafen, wo die Scheiben auf Plattformen im Wasser schwammen. Mediale Aufmerksamkeit sei schön, sagt die 22-Jährige. »Und sie ist wichtig für uns.« Deshalb freuen sich alle auf die Finalkämpfe der WM. 21 TV-Kameras aus aller Welt werden von Freitag bis Sonntag ähnlich faszinierende Bilder aus dem dafür errichteten Stadion auf dem Olympischen Platz produzieren. 1500 Zuschauer können live dabei sein, noch sind nicht alle Karten vergriffen.

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