• Kultur
  • Food for Thought (Teil 5): Kaffeehaus

Nicht zu Hause und doch bei sich

Das Kaffeehaus ist das bessere Lokal, die bessere Kneipe, das bessere Wohnzimmer und der bessere Salon

  • Magnus Klaue
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Sommer wollen alle draußen sitzen. Zur Zeit der coronapolitischen Betretungsverbote und -einschränkungen war deshalb der Sommer in der Gastronomie nicht nur die lukrativere, sondern auch die liberalere Jahreszeit. Hier konnte man je nach Rigidität von Personal und Geschäftsleitung mitunter auch als Ungeimpfter und Ungetesteter zwischen Test- und Impfpassbürgern seinen Wein oder Kaffee trinken, ohne aufzufallen.

Mit Anbruch des Herbstes erwies sich die Aufteilung der Gäste in Drinnen- und Draußensitzer als Index politischer Konformität: Draußen saßen, sofern überhaupt das Draußensitzen erlaubt war, fast nur noch hygienepolitische Sturköpfe, während die Mitmacher es sich drinnen bei kuscheligen Temperaturen gut gehen ließen. Erst jetzt bemerkte man, in welchem Maß die im Wort Gastronomie steckende Gastlichkeit Appendix des Dienstleistungsbetriebs geworden war: Das Servicepersonal musste seiner Konstitution nach schon vor Corona der Security-Dienst gewesen sein, als der seine Angehörigen nun offen agierten; die »Freisitze«, an die schon vor Corona unheilbare Raucher abgeschoben worden waren, wurden endgültig auf Katzentische für Geduldete reduziert.

Natürlich haben die Wiener Kaffeehäuser bei der Transformation von Dienstleistungsstätten in Sicherheitsbehörden mitgemacht. Wien war maßnahmenpolitisch das Deutschland Österreichs, eine Vorzeigeinstitution wie das Kaffeehaus musste mit gutem Beispiel vorangehen. Ohne Knirschen vollzog sich die Umstellung aber nicht. Das Kaffeehaus widersetzte sich ihr in seinem innersten Geist. Denn das Kaffeehaus, jedenfalls dort, wo es nicht, wie häufig innerhalb des Rings, zur musealen Altstadtdekoration wurde, ist Inbild einer Geselligkeit, die niemanden hineinzwingt und niemanden vor der Tür stehen lässt; die das Abweichende achtet, solange es sich nicht unbotmäßig aufdrängt; die nie vergisst, dass die Gesellschaft, die sie ermöglicht, aus Einzelnen besteht.

Anders als in Gaststätten dominieren dort nicht Stammtisch und Hausmannskost. Im Unterschied zum Restaurant sucht man das Kaffeehaus nicht auf, um auszugehen, sondern um außer Haus nach Hause zu kommen. Gaststätten und Kneipen geben sich oft heimelig-privat und legen mitunter eine aggressive Herzenswärme an den Tag, die aus ihnen geschlossene Gesellschaften macht; das Kaffeehaus ist urbaner, anonymer und darum gastfreundlicher.

Das Restaurant sucht man, ob man draußen oder drinnen sitzt, auf, um auswärts zu sein; statt der Speisekarte die Tageszeitung zu studieren, wäre unverschämt gegenüber der Begleitung wie dem Personal. Ins Kaffeehaus, wo die draußen stehenden Tische ausgelagerter Innenraum sind, geht man mit der Freundin manchmal aus dem alleinigen Grund, um gemeinsam und für sich zu lesen. Das Essen, das fast immer gut schmeckt, steht wie der Verlängerte, der Zweigelt oder das Zwickl nicht im Mittelpunkt, sondern als Begleitung von Lektüre, Beobachtung und Gespräch irgendwie dabei.

Im Unterschied zu manchen Kaffeehäusern, die einem in Wien empfohlen werden (wie das »Café Bräunerhof«, Thomas Bernhards Stammkaffeehaus in der Inneren Stadt), hat mein Lieblingskaffeehaus nichts von einer Bühne, auf der alle Beteiligten Akteure und Zuschauer sind. Dafür ist es zu provinziell. Obwohl es sich nahe vom Schloss Schönbrunn befindet, verirren sich wenige Touristen dorthin. Die Mittagskarte enthält regelmäßig ein vegetarisches Gericht, aber die junge österreichische Küche ist nicht bis nach Meidling vorgedrungen. Es gibt Schopfbraten mit Kraut oder Gulasch mit Serviettenknödeln, Brathendl mit Nockerl oder Majoranfleisch mit Hörnchen, Würstel oder Schinken-Käse-Toast, Palatschinken mit Nutella oder mit Marillen – und als ersten Gang die von Bernhard gehassliebte Frittatensuppe. Es gibt Melange und Ottakringer Bio-Zwickl. (Weil mir die österreichischen Weine zu spritzig sind, habe ich dort Biertrinken schätzen gelernt.)

Es gibt also nichts Ausgefallenes, nichts Besonderes, und gerade das lädt ein, sich auf sich selbst, aufeinander und auf die frei gewählten Gegenstände freischwebenden Interesses zu konzentrieren. Die Menschen, denen man begegnet, erkennt man wieder, ohne mit ihnen per Du zu sein. Mein Lieblingskellner, ein bescheidener, etwas skurriler, dezenter älterer Herr mit randloser Brille, wirkt, als hätte er viel Interessantes zu erzählen, was er, weil es interessant ist, höflich schweigend verbirgt. Der Chef liest Bücher über österreichische Geschichte und fragt, was man selber gerade liest. Die Frau vom Chef verkörpert jene Mischung aus Unleidlichkeit und Charme, die viele für eine Wiener Spezialität halten.

Die Gäste sind nicht unbedingt Stammgäste, aber Sozialcharaktere mit ausgeprägter Physiognomie: alte Herren und alte Damen, die alleine lesen, schreiben oder auch zeichnen; Paare und Grüppchen, die reden, Karten oder Schach spielen. Einmal habe ich Mitglieder eines Vereins von Hobbyastronomen beobachtet. Manche Gäste wirken ansatzweise und daher sympathisch verwahrlost, andere wie Privatgelehrte; selten wird lästig telefoniert, allenfalls unauffällig am Laptop gearbeitet.

Eigentlich passiert nie etwas Unvorhergesehenes, man ärgert sich selten über andere und begegnet genauso selten außergewöhnlichen Menschen; man erfährt, wie beglückend die unaufdringliche Wiederholung sein kann. Man empfängt keine hohen Gäste, trifft nicht die besten Kumpels und flieht auch nicht aus dem zu eng gewordenen Zuhause dorthin, denn es ist nicht das Gegenbild zum Zuhause, sondern dessen unauffällige Ergänzung: die selbstverständliche, eher den Hintergrund als den Mittelpunkt des Alltags bildende Öffentlichkeit, die seit drei Jahren etwas weniger selbstverständlich geworden ist.

Vollkommen wird alles dadurch, dass ich zu Fuß hin- und zurücklaufen kann, von dem Ort aus, der mir in Wien der liebste ist und den ich hoffentlich oft wiedersehen werde. Den Namen des Kaffeehauses verrate ich nicht. Sonst kommen womöglich Leute hin, die nicht zu treffen ich mich freue.

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