Alle Kriege ächten

Jürgen Todenhöfer blickt zurück auf globale Krisen und Konflikte

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Immer zu Auskünften bereit: der einstige Politiker und fleißige Publizist Jürgen Todenhöfer
Immer zu Auskünften bereit: der einstige Politiker und fleißige Publizist Jürgen Todenhöfer

Hier stehe ich. Ich kann nicht anders« – mit diesen Worten hat sich Luther 1521 vor dem Wormser Reichstag geweigert, seine Lehren zu widerrufen. »Und folgt dir keiner, geh allein« heißt das neue Buch von Jürgen Todenhöfer. Ein Eigenständiger, der seinem Gewissen folgt. Ein Abenteuerlustiger auch, einer der anderen Mut machen kann.

Geschichte eines Lebens: Kurz vor seinem 85. Geburtstag im November dieses Jahres fand es Todenhöfer wohl an der Zeit, seine Erlebnisse noch einmal Revue passieren zu lassen. Nachdenklich darüber, welche Wendungen damit verbunden waren. Wie es ihn prägte, dass sich sein jüngerer Bruder mit 22 das Leben nahm, überlegt er, wie er die Schrecken der Bombennächte im Zweiten Weltkrieg nie vergessen konnte, wie er zum »Wahrheitssucher« wurde. Rund um die Welt hat ihn das getragen: vom Mittleren Osten nach Lateinamerika und Asien. In Kuba, Vietnam, China und den USA war er unterwegs. Und immer wieder verarbeitet er seine Erlebnisse in Geschichten, so mitreißend, dass man das Buch nicht aus der Hand legen möchte. Nicht jeder wäre wie er als ganz junger Mann in Marseille an Bord eines schrottreifen Dampfers gegangen, um nach Algier zu kommen. Die Folgen des französischen Krieges gegen die FLN, die algerische Befreiungsfront, waren für ihn ein Schock. Fortan wurde das Engagement »gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt« zur Maxime seines Lebens.

Freimütig erzählt der Autor von sich, es geht immer auch um ganz Privates, wie einen Skiunfall in St. Moritz und den anschließenden Anruf von Helmut Kohl (bis 1990 war Todenhöfer Bundestagsabgeordneter der CDU, mit 60 Jahren ist er ausgetreten). Dass er für viele Journalisten ein Paradiesvogel war, kann man sich vorstellen. Aber von vornherein sicher war er sich über seine Ziele: »Krieg und jede Form von Rassismus zu ächten« und »mitzuhelfen, die fatale Teilung Deutschlands zu überwinden«.

Herzstück des Buches sind Berichte von seinen Reisen in Krisengebiete. Heutigen Lesern mag es gar nicht mehr bewusst sein, mit welchen Mitteln Nato-Mitglied Portugal gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Mosambik vorging. Das Buch lesend, begreift man: Schon damals fand ein Weltordnungskrieg statt. War es nicht problematisch, sich auf ein Gespräch mit dem Diktator Pinochet einzulassen? Aber der Autor wollte etwas für die Freilassung politischer Gefangener tun.

Immer wieder hatte er schwierige Entscheidungen zu treffen, stand auch in der Kritik. Doch was für großartige Erlebnisse hatte er! Wem alles er gegenübersaß: Indira Gandhi, Ramón Castro, Michail Gorbatschow. Zu Fuß erkundete er Afghanistan nach dem sowjetischen Einmarsch dort, traf sich dann in Moskau mit Marschall Achromejew zum Mittagessen … Jürgen Todenhöfer führt vor Augen: Man kann mit jedem reden, wenn man sich der eigenen Überzeugungen sicher, aber auch bereit ist zuzuhören.

Nach dem Anschlag von 9/11 schrieb er einen Brief an George W. Bush mit der Bitte, nicht noch einen Krieg gegen Afghanistan zu führen, und er bat Mullah Omar, das Staatsoberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistan, Osama bin Laden auszuliefern. »Bush ließ sich nicht aufhalten.« Später begriff er, dass es mit Kriegsplänen gegen sieben weitere Staaten darum ging, »frühere Kundenregime der Sowjetunion wegzuräumen«, wie lange vor 9/11 der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz bekundete.

Westliche Kriegsverbrechen in Afghanistan, im Irak, Diffamierungskampagnen gegen alles Islamische, Libyen-Krieg, die syrische Tragödie … bis hin zum Gaza-Konflikt, der schon lange schwelte, den Huthi-Raketen auf Israel und der Palästina-Frage überhaupt – zu all dem gibt es im Buch ausführliche Analysen. Todenhöfer war im Iran, in Saudi-Arabien, im Kongo. Nie fiel er auf einfache Gut-Böse-Schemata herein, mit denen uns die offizielle deutsche Berichterstattung auch heute bezüglich des Ukraine-Konflikts überschwemmt.

Er recherchierte in Kiew wie in Moskau, forscht nach, was es an inneren und äußeren Interessen gibt. Er entwirft eine Verhandlungslösung und spricht sich für den Stopp aller gegen Russland gerichteten Waffenlieferungen und Sanktionen aus. Die seltsame Situation, dass einem US-amerikanischen Präsidenten dieser Krieg inzwischen zu teuer wird, die Europäer ihn aber bis zum letzten Ukrainer weiterführen wollen und gar einen Atomkrieg mit Russland riskieren, ist noch nicht Gegenstand des Buches.

Durch riskant hohe Kredite soll Deutschland nun kriegstüchtig werden. Geistige Mobilmachung für einen Fall, der um Gottes willen nie eintreten möge. Es wird brenzlig. Die Devise von Jürgen Todenhöfer erhält eine neue Brisanz: »Lebe jeden Tag wie ein ganzes Leben!«

Jürgen Todenhöfer: Und folgt dir keiner, geh allein. Geschichte eines Lebens. Bertelsmann, 460 S., geb., 24 €.

Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -