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Demokratie in Gefahr? Buhlen und Blenden

Gedanken zur Parteienverdrossenheit gestern und heute. Was auf dem Festakt von Herrenchiemsee nicht zur Sprache kam

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 7 Min.
Auch die Liberalen sollten sich fragen, ob ihre Küngelei mit Kapitalgewaltigen nicht ebenso zur Parteiverdrossenheit beiträgt.
Auch die Liberalen sollten sich fragen, ob ihre Küngelei mit Kapitalgewaltigen nicht ebenso zur Parteiverdrossenheit beiträgt.

Nein danke, ich bin parteilos glücklich» – diese Worte legte vor einiger Zeit ein thüringischer Karikaturist einem Mann in den Mund, der offensichtlich keiner Partei vertraut und sich deren Werbung verweigert. Die Parteien bieten ihm kleine Geschenke an: Fähnchen, Luftballons und Kugelschreiber, jedoch kein Konzept. Sie wollen ihn lediglich ködern. Sie buhlen um die Gunst des Mannes, dem jedoch ein Spaziergang mit seinem Hund wichtiger zu sein scheint.

Parteien und deren Adressaten stehen gleichermaßen in der Kritik. Dass der vom Zeichner gewählte Titel «Buhlende Parteienlandschaft» die Wortähnlichkeit zu den «blühenden Landschaften» nutzt, die der ostdeutschen Bevölkerung 1990 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochen wurden, sei lediglich am Rande vermerkt.

Selbstverständlich existieren Aversionen gegenüber den politischen Parteien in allen Teilen Deutschlands. Die Palette ist breit und reicht vom totalen Bannfluch bis zu Forderungen nach Überparteilichkeit; von Parteienprüderie bis zu Parteienverdrossenheit und grantigen Unmutsäußerungen; vom Wunsch nach einer Reform des Parteienwesens bis zur besorgten Frage, ob denn politische Parteien überhaupt noch eine Zukunft haben. Alle fußen indessen auf einem antidemokratischen, zumeist auch nationalistischen Politik- und Parteienverständnis, dessen Ursachen und vielgestaltige Erscheinungsformen bis ins 19. Jahrhundert der deutschen Geschichte zurückzuverfolgen sind.

Die gegen Existenz und Wirken politischer Parteien gerichteten Ideen tauchten nahezu zeitgleich mit deren Entstehung auf. Wer den möglichen Wirkungen heutiger Parteienverdrossenheit präventiv begegnen will, der sollte auch Erscheinungsformen, Strukturen und Merkmale aller Anti-Parteien-Affekte analysieren und historische Erfahrungen beachten. Blickt man in diesem Sinne auf das 20. Jahrhundert, so wird dieses nicht nur als das politischer Extreme, terroristischer Diktaturen und mörderischer Weltkriege zu bezeichnen sein. Zu reden ist ebenso von einem Jahrhundert größter Dynamik des Parteienwesens und breitester Vielfalt der Parteiensysteme. Alle Ereignisse und auch die Entwicklung des vergangenen Säkulums sind ohne sie nicht zu erhellen. Das gilt insbesondere für die Vorgeschichte des 1933 errichteten faschistischen Regimes.

Die Bedeutung der Parteien, die sich auf der Grundlage divergierender Interessen und des Konkurrenzgeschehens der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts formiert hatten, nahm mit dem sich durchsetzenden Prinzip der Volkssouveränität und mit dem Übergang ins Zeitalter der Massen außerordentlich zu. Ihr Erfolg hing mehr und mehr davon ab, sich aus Klientel- und Wahlvereinen zu großen Mitgliederparteien zu entfalten. Um dies erreichen zu können, sahen sich alle veranlasst, ihre jeweiligen partikularen Interessen Schritt für Schritt hintanzustellen.

Nach dem Urteil Hannah Arendts begann das Unglück der Parteien, als diese anfingen, sich des «Materialismus» ihrer Interessen zu «schämen», und den Beweis antreten wollten, dass «die jeweiligen, besonderen Interessen einer Klasse oder Gruppe haargenau mit dem Gesamtinteresse der Nation oder gar dem Interesse der gesamten Menschheit übereinstimmten». Deutlich sprach sie von «verlogenen Kombinationen engster Interessen und allgemeiner Weltanschauungen», die nur scheinbar paradox seien, «weil mit der Reflexion des Klassensystems in den Parteien diese dringend des Nationalismus, des volkstümlichen Ausdrucks gesamtnationaler Interessen» bedurft hätten. Die Aufgabe, Kandidaten für die Wahlen zu nominieren, betrachtete sie als «den Generalnenner aller Parteien in gleich welchen Systemen».

Die Philosophin berührte damit bereits den Zusammenhang zwischen dem parlamentarischen Parteiensystem, das sie niedergehen sah, und der Tatsache, dass die Parteien «in der Volksmeinung mehr und mehr als eine kostspielige und eigentlich unnötige Institution» gelten würden. Allen Gruppen, die «jenseits von Parteien- und Klasseninteressen» auftreten, biete sich nach ihrer Meinung eine «Chance echter Popularität». Klarsichtig erkannte sie zugleich die Begrenztheit «überparteilicher» Ansprüche und anderer Parteienaversionen: «Dass diese Gruppen dem Allgemeinwohl dienten und zur Führung der Staatsgeschäfte geeigneter sein würden als das parlamentarische Parteiensystem, war freilich nur ein Schein; sie alle verfolgten in Wahrheit nur das Ziel, ihr eigenes partikulares Interesse an die Stelle der vielen, widersprechenden Interessen der Klassengesellschaft zu setzen und in Form der Parteidiktatur die Macht, also den Staatsapparat zu ergreifen.» Um diese Ziele zu erreichen, würden diese Gruppen unter anderem den Begriff der «Bewegung» usurpieren, um Massen für sich zu gewinnen.

Vor allem die Geschichte der NSDAP belegt diese Feststellungen. Bekanntlich betrieb deren Führung einen enormen Aufwand, die eigene Organisation als «Bewegung», als «Partei über den Parteien» sowie als «Überwinderin» des Parteienwesens darzustellen. Um sich von den anderen Parteien abzuheben, diskreditierte sie diese mit allen Mitteln – doch darüber hinaus zielte sie auch auf das Existenzrecht des gesamten Parteienwesens. Dessen negative Erscheinungsformen (Machterhaltung um jeden Preis, Parteiegoismus, Selbsterhaltungstrieb, Beharrungsvermögen, Korruption und Futterkrippenwirtschaft) erschienen in der NS-Ideologie zudem als «undeutsche» Übernahme westlicher Demokratiemodelle sowie als Ergebnis jüdischer Aktivitäten. Wie wir wissen, trug die Anti-Parteien-Propaganda der NSDAP wesentlich zum Zustandekommen der Millionengefolgschaft bei, seit 1930 auch zur Mobilisierung bisheriger Nichtwählerscharen. Doch weshalb konnte diese Delegitimierung des Parteienwesens so erfolgreich sein?

Wesentlich war wohl vor allem, dass die NSDAP in ihrer Kritik am Parteiensystem, gebündelt im Begriff der «System»-Parteien, nicht allein stand. In der nationalistischen Ideenwelt der Völkischen und vieler Konservativer hatte das Thema stets Vorrang besessen. Obgleich die NSDAP selbst als Partei auftrat, traf sie mit ihrer Parteienaversion einen empfindlichen Nerv vieler Menschen, fand sie Resonanz und Bestätigung. Das Thema besaß Alltagsattraktivität. Die Auswirkungen der real existierenden Schwächen des Parteienwesens und die Krise des Weimarer Parteiensystems waren überall und für alle unverkennbar.

Die NS-Ideologen hatten in den frühen 20er Jahren zunächst die anderen Parteien mehr als Gegner oder als Konkurrenten betrachtet, die es zu diskreditieren galt. An eine Überwindung des Parteienwesens dachten sie auch deshalb nicht, weil sie in der existenziellen Auseinandersetzung mit den völkischen Gruppen den Charakter ihrer Organisation als Partei zu verteidigen gezwungen waren. Viele Völkische, die sich selbst in Wehrverbänden, Bünden usw. organisiert hatten, beklagten die Aufnahme des Wortes «Partei» in den Namen der NSDAP.

Bis in die Mitte der 20er Jahre bemühte sich die NSDAP hauptsächlich darum, einen eigenständigen Platz innerhalb des bestehenden Parteiensystems zu gewinnen. Erst später wurde von ihr behauptet, dies sei lediglich Taktik gewesen, doch das belegen die Quellen nicht. Die Hinwendung zu grundsätzlicher Kritik am gesamten Parteienwesen sowie zu einer visionären Zielsetzung erfolgte tatsächlich erst, als sie selbst Machtpositionen anzustreben begann.

Im Ringen um die Gewinnung eines größeren Massenanhangs konnte die NSDAP nicht nur die völkischen, sondern auch alle konservativ-nationalen, monarchischen und antidemokratischen Denktraditionen nutzen. Die Parteien seien überholt, modrig wie faulendes Aas, verträten sie doch lediglich jeweils spezielle Interessen – so hatte es bereits geheißen, als an die Nazis noch nicht zu denken war.

Lange vor ihrem Erscheinen auf der politischen Bühne war auch die Idee einer neuartigen «überparteilichen» Organisation verbreitet worden. Stark und umfassend drang alles in ihre Gedankenwelt ein, was in dieser Hinsicht konservative Kreise bereits zuvor verlautbart hatten. Wenn also von «Vordenkern» und «Wegbereitern» zu sprechen ist, lässt sich das eindeutig belegen, mitunter sehr detailliert bis in einzelne Formulierungen hinein, wie einige Beispiele verdeutlichen. So äußerte selbst der Eiserne Kanzler Otto von Bismarck 1884 im Deutschen Reichstag: «Die politischen Parteien sind der Verderb unserer Verfassung und der Verderb unserer Zukunft.» Oswald Spengler schrieb in «Der Untergang des Abendlandes» 1922: «Die deutsche Verfassung von 1919 … enthält in aller Naivität eine Diktatur der Parteimaschinen, die sich selbst alle Rechte übertragen haben und niemandem ernsthaft verantwortlich sind.» Und 1925 Ernst Jünger: «Der Tag, an dem der parlamentarische Staat unter unserem Zugriff zusammenstürzt und an dem wir die nationale Diktatur ausrufen, wird unser höchster Festtag sein.»

Wer sich hier an ähnliche Parolen heute erinnert fühlt, empfindet richtig. Die Parteien stehen gegenwärtig erneut in arger Kritik. Viele Menschen empören sich über die von den Parteien praktizierte Verschleierung ihrer Ziele, häufig auch wegen des Missbrauchs errungener Macht, finanzieller Anmaßungen und Skandale. Man hält Politiker für unehrlich, bezweifelt deren Problemlösungskompetenz. An Wahltagen findet all das Bestätigung durch erschreckend hohe Zahlen von Nichtwählern – oder eben in Stimmen für eine in Teilen rechtsextremistische Partei, die gleichfalls von «System-Parteien» spricht wie deren ideologischer Vorläufer und suggeriert, das Parteienwesen zerschlagen zu wollen; freilich ohne sich selbst zur Disposition zu stellen.

Das Buhlen der AfD um die Gunst der Wähler ist mit aggressivem Blöken gegen andere Parteien verbunden. Daraus erwachsen generell Gefahren für demokratische Willensbildungsprozesse, an denen mitzuwirken in Deutschland das Grundgesetz die Parteien verpflichtet. Während der Mahnungen vor den Gefahren für die Demokratie am vergangenen Donnerstag beim Festakt in Herrenchiemsee, wo vor 75 Jahren der Konvent zur Ausarbeitung der Verfassung für die zu gründende Bundesrepublik Deutschland getagt hatte, war davon aus keinem honorigen Munde ein Wort zu vernehmen.

Professor Manfred Weißbecker ist Faschismusforscher und lebt in Jena.

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