30 000 Giftgranaten warten auf Bergung

Bundesweit einmaliges Kampfstoff-Altlastenlager in der Lüneburger Heide wird entsorgt

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Viele Jahre lang war die ehemalige, anfangs mit Regenwasser gefüllte etwa zwölf Meter tiefe Kieselgurgrube unweit der niedersächsischen Garnisonstadt Munster unbeachtet geblieben. Zeitzeugen wussten allerdings, dass das NS-Regime diesen »Dethlinger Teich« seit dem Zweiten Weltkrieg mit Giftstoffen belastet hatte: mit Spülwasser aus Tankwagen, mit denen chemischer Kampfstoff – der aber nie zum Einsatz kam – zur nahe gelegenen Munitionsanstalt Munster transportiert worden war.

Nach dem Krieg, auch das wird von Menschen aus der Umgegend berichtet, hatten dann britische Besatzungssoldaten Kampfstoffbomben und -behälter der deutschen Wehrmacht in die Grube geworfen. Ein Gleiches tat der Kampfmittelräumdienst der niedersächsischen Polizei Anfang der 1950er Jahre mit konventioneller Munition, die er unschädlich machen sollte. Stets ging man davon aus, dass das seit jeher in der Grube befindliche Kieselgur, das unter anderem für Filter und zur Schädlingsbekämpfung genutzt wurde, die Grube nach unten hin isoliere. Deshalb könnten keine Schadstoffe ins Grundwasser gelangen, wurde vermutet.

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Später aber, im Jahr 2016, wurde eine »Schadstofffahne« im Grundwasser festgestellt. Doch mittlerweile war es still geworden um den »Dethlinger Teich«. Mit Bauschutt hatten ihn Arbeiter 1952 zugeschüttet, und lange kümmerte sich niemand mehr um die Grube und ihren Inhalt. Eine Bürgerinitiative hielt jedoch die Erinnerung an den nach außen hin unscheinbaren, nur durch seine Senke erkennbaren Teich bis Ende der 1980er Jahre wach, mahnte mehrmals zum fachgerechten Entsorgen des gefährlichen Inhalts.

Doch erst im Frühjahr 2017 vereinbarten der Landkreis Heidekreis und das Niedersächsische Umweltministerium: Die Grube wird gründlich untersucht. Endlich wollten die Behörden Klarheit über die verborgene Gefahr bekommen, die von dem Lager drohen könnte. Denn irgendwelche Unterlagen, etwa Listen über das eingelagerte Gefahrgut, gab es nicht. Rund drei Millionen Euro wurden für die Untersuchungen bereitgestellt.

Das Ergebnis war erschreckend: Etwa 75 000 Liter des todbringenden, die Lungen verätzenden Kampfstoffs Phosgen könnten im Boden ruhen, hieß es, und rund 10 000 Liter des auch als »Senfgas« bekannten, nicht minder tödlichen Kampfstoffs Lost seien vermutlich im Teich verborgen. Nicht auszuschließen sei auch, dass sich der Kampfstoff Clark unter den Giften befindet: Diese auch Pfiffikus genannte Substanz stammt noch aus dem Ersten Weltkrieg, war ein sogenannter Maskenbrecher. Er durchdrang die Filter der Gasmasken und löste bei deren Trägern einen Brechreiz aus. Der zwang die Soldaten, die Masken vom Gesicht zu reißen, und so waren sie ungeschützt gegen gleichzeitig mit Clark verschossene Kampfstoffe wie Phosgen oder Lost.

Mittlerweile gehen Experten davon aus, dass etwa 30 000 Granaten in der Grube auf ihre Entsorgung warten. Deren Vorbereitungen sind bereits im Gange, noch werden die Abläufe des Bergungsverfahrens geprobt. Über dem »Dethlinger Teich« ist inzwischen eine etwa 10 000 Quadratmeter große Halle errichtet worden, sie soll zusammen mit Erdwällen einen vorsorglichen Schutz gegen eventuelle Explosionen bieten. In die Halle gelangen die Fachleute, die mit einem eigens für den Einsatz am »Dethlinger Teich« konstruierten Spezialbagger die Granaten bergen werden, nur durch Schleusen.

Jede einzelne Granate, die ans Tageslicht geschafft wird, kommt in eine Röntgenanlage und wird dort auf ihren Inhalt geprüft. Dann werden die Geschosse zur Munitionsvernichtungsanlage in Munster geschafft und dort unschädlich gemacht. Die Umwelt soll von der Grube und ihrem Inhalt abgeschottet bleiben, deshalb werden die Straßen, über die künftige Kampfstofftransporte zu der Anlage in Munster rollen, während der entsprechenden Fahrten gesperrt. Rund fünf Jahre werde die Bergung der Giftstoffe dauern, rechnen Fachleute, und sie schätzen: Die Kosten der Aktion werden sich voraussichtlich auf rund 80 Millionen Euro summieren, wahrscheinlich zu Lasten von Bund und Land.

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