- Berlin
- 160. Geburtstag
Berliner SPD: Von der Arbeiter- zur Wirtschaftspartei
Die Berliner Sozialdemokratie feiert ihren 160. Geburtstag
Fünf alte Frauen, drei alte Männer. Sieben von ihnen haben graue Haare und alle tragen weiße Hemden und rote Schals – ein bisschen wie der Westberliner Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD), als er 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer durchs Brandenburger Tor schritt und die Bilder davon um die Welt gingen. Bei Momper allerdings war es ein edler Kaschmirschal. Die acht Vorwärts-Liederfreunde sind bescheidener ausstaffiert, als sie am Montagabend beim Sommerfest der Hauptstadt-SPD auftreten, die noch sehr viel älter ist als sie selbst.
160 Jahre Berliner SPD gibt es zu feiern. Im Juli 1863 war es, da hörten zum ersten Mal Sozialdemokraten im Tanzlokal »Eldorado« in der Bergstraße, Ecke Torstraße Vorträge von Ferdinand Lassalle. Damit fing es an. Und wohin ist es gekommen? Die Vorwärts-Liederfreunde singen ein Lied von damals: »Arbeiter aufgewacht und erkenne deine Macht. Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.« Sie singen es im »Mauersegler«, einer trendigen Lokalität auf der Grenze der alten Arbeiterbezirke Wedding (Der rote Wedding) und Prenzlauer Berg. Von 1961 bis 1989 stand hier die Mauer und trennte Sozialismus und Kapitalismus. Heutzutage verläuft hier eine Scheidelinie zwischen dem immer noch armen Wedding und dem inzwischen teuer aufgemotzten Prenzlauer Berg, in dem man Arbeiter mit der Lupe suchen muss.
Ein Liederfreund gratuliert der SPD zum 160. Geburtstag: »Der Kampf geht sicher weiter.« Er hofft, die Partei werde das soziale Gewissen der Stadt bleiben. Doch diese Hoffnung dürfte enttäuscht werden. Schließlich hat die SPD in ihrer langen Geschichte die Arbeiter schon oft verraten und verkauft. Das Wort »Arbeiter« kommt dann auch in der Ansprache der Landesvorsitzenden Franziska Giffey überhaupt nicht vor. Ganz Wirtschaftssenatorin spricht sie stattdessen davon, »eine starke Wirtschaft zu fördern, damit Wohlstand allen in dieser Stadt zugute kommt«. Immerhin wagt Giffey den Ausspruch: »Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!« Das ist eine Zeile aus einem Gedicht von Georg Herwegh von 1863, verwendet als Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, eines Vorläufers der SPD. Sogar die Formel »soziale Gerechtigkeit« kommt der Senatorin über die Lippen. Die SPD sei »ein wichtiger sozialpolitischer Faktor für diese Stadt«. Darum sei sie »sehr, sehr froh«, dass die Partei in der Regierungsverantwortung sei.
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Aber die Umstände der Regierungsbeteiligung sind im Grunde schon ein Verrat. Statt nach der Wiederholungswahl vom 12. Februar die rot-grün-rote Koalition fortzusetzen – das Wahlergebnis hätte dies hergegeben –, ließ sich Giffey mit der CDU ein. Sie will wenigstens für die nächsten drei Jahre keinen Wechsel mehr. Die CDU passt nach Einschätzung des enttäuschten Berliner stellvertretenden Linksfraktionschefs Tobias Schulze auch besser zu Giffey. Mit einer Konservativen wie ihr habe man schwer ein linkes Projekt machen können, bedauert Schulze am Dienstag.
»Es ist gerecht, wenn die Sozialdemokratie regiert«, behauptet am Montagabend Raed Saleh, der gemeinsam mit Giffey an der Spitze der Berliner SPD steht. Aber mit ihrer Politik bewiesen die Sozialdemokraten in ihrer langen Geschichte immer wieder, dass das nicht stimmt. Es gab natürlich auch ehrliche Genossen, die zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg hielten. Aber deren Erbe wird nicht gepflegt.
Im »Mauersegler« drängeln sich die Gäste des Empfangs. Es ist aber nicht viel Platz dort. Es ist ein kleiner Rahmen für eine große Partei. Die Liederfreunde müssen mit ihren Darbietungen gegen laute Gespräche ansingen. Sie erhalten aber auch Applaus. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist noch lebendig. Kommentar
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