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Überwundene Depressionen: Erzieher trauert Kindern nach

Kindergärten Nordost kündigen Errikos S. wegen Depressionen, die er überwunden hat

Die Kinder in seiner alten Kita in Berlin-Lichtenberg vermissen ihn. Eltern fragen, warum Errikos S. nun nicht mehr zur Arbeit kommt. So erzählt es der Betroffene, der seine berufsbegleitende Ausbildung plötzlich abbrechen musste und im schlimmsten Fall nie wieder aufnehmen kann. Er versteht selbst nicht, wie es dazu kommen konnte. Obwohl er die Begründung kennt. Aber er kann sie nicht nachvollziehen.

Schließlich werden Erzieher händeringend gesucht – auch vom landeseigenen Betrieb Kindergärten Nordost, der in seinen 80 Einrichtungen in den Bezirken Pankow, Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf mehr als 10 000 Kinder betreut. »Berufsbegleitende Ausbildung? Wir suchen Sie: Informieren Sie sich jetzt auf unserer Karriereseite!« – so heißt es im Internet ganz groß gleich auf der Startseite dieses Kita-Betriebs.

Warum aber kündigt man dann S., obwohl dem die Tätigkeit große Freude macht, obwohl er sich mit den Kollegen gut versteht, die Kita mit seiner Arbeit zufrieden ist und die Berufsschule mit seinen Leistungen? Am 7. Juli erhielt der 41-Jährige für ihn völlig überraschend die Kündigung zum Ende des Monats. Und das kam so: Eingestellt im Februar, musste er sich am 6. Februar bei der Zentralen Medizinischen Gutachtenstelle einer Amtsärztin vorstellen. Dort legte er seinen Schwerbehindertenausweis vor. Normalerweise ist das kein Hinderungsgrund, sondern noch ein Plus bei einer Bewerbung. Denn in Deutschland sind Betriebe mit mindestens 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, wenigstens fünf Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen. Verfehlen sie diese Quote, müssen sie eine Ausgleichszahlung leisten. In vielen Tätigkeiten aber schlagen sich Behinderte genauso gut wie Kollegen ohne Einschränkungen.

Errikos S. erteilte der Amtsärztin ehrlich Auskunft über seine gesundheitlichen Probleme. Er litt früher sehr unter Depressionen und hatte auch Panikattacken und Angststörungen. Er hat deswegen auch eine Betreuerin, die dem gebürtigen Griechen beispielsweise dabei hilft, mit der deutschen Bürokratie klarzukommen. Aber eigentlich brauche er die inzwischen nicht mehr, meint der 41-Jährige. Er will sein Leben künftig ohne Betreuerin meistern und ist fest überzeugt, das hinzubekommen. Denn die Depressionen habe er überwunden. Es gehe ihm wieder gut. Das attestiere ihm auch seine behandelnde Ärztin, die sogar ausdrücklich diagnostiziert habe, dass ihm die erfüllende Tätigkeit in der Kita gut tue.

Die Amtsärztin aber habe ihn gar nicht untersucht, sondern sich im Prinzip nur alte Befunde angeschaut. Dabei ist sie zu dem Schluss gekommen, den Kindergärten Nordost davon abzuraten, S. als Erzieher zu behalten. So rechtfertigt Rechtsanwalt Sören Knaisch von der Kanzlei Steinkühler die Kündigung des Arbeitgebers vergangene Woche bei einem Termin vor dem Arbeitsgericht. Dabei versucht die Richterin die Chancen für eine gütliche Einigung ohne Urteil auszuloten. Besonders anstrengen muss sich Knaisch nicht, die Kündigung zu begründen. Denn sie erfolgte innerhalb der Sechs-Monats-Frist, also noch in der Probezeit. Da müssen Arbeitgeber für eine Entlassung keine triftigen Gründe haben, der Kündigungsschutz greift noch nicht. Dagegen anzukommen, ist schwer. Zumal, wenn wie im vorliegenden Fall sogar der Personalrat zugestimmt hat, was bei den Kindergärten Nordost nicht so häufig vorkomme, wie Anwalt Knaisch aus Erfahrung versichert.

Der Anwalt bedauert aber, dass S. nicht gleich im Februar oder kurz danach erfahren habe, dass es für ihn bei den Kindergärten Nordost keine Perspektive gibt. Es habe lange gedauert, bis das Gutachten eintraf. Warum, wisse er nicht.

Errikos S. selbst hatte im Februar keinen Anhaltspunkt dafür, dass man ihn feuern werde, wie er sagt. Er habe sich doch extra erkundigt, ob Depressionen ein Hinderungsgrund wären. Die Amtsärztin habe ihm gesagt, mit Psychosen oder gewalttätigen Ausbrüchen könne er nicht als Erzieher arbeiten. Aber die habe er ja nie gehabt und sich deshalb keine Sorgen gemacht, sagt der 41-Jährige.

Was nun im Detail in dem Gutachten steht, möchte Anwalt Knaisch vor Gericht nicht zitieren, da Gerichtsverhandlungen öffentlich sind und in dem kleinen Saal 241 zwei Personen auf den Zuschauerplätzen sitzen. Deswegen will der Anwalt des Kita-Betriebs die sensiblen Gesundheitsdaten von S. nicht ausbreiten. »Ich glaube nicht, dass so eine Stellungnahme der Zentralen Medizinischen Gutachtenstelle leichtfertig erfolgt«, sagt Knaisch.

Errikos S. jedoch gibt freimütig Auskunft, auch wenn ihm seine Ehrlichkeit nun schon einmal geschadet hat. Er macht einen stabilen und sympathischen Eindruck. Dass er einmal mit den Tränen kämpft, ist verständlich. Da erzählt er, ausgerechnet am Tag seiner Suspendierung habe er die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten. Zur Beisetzung ist er zwischenzeitlich nach Griechenland gereist. Dort in der Heimat hatte S. einst Wirtschaftswissenschaften studiert. Mit dem Abschluss in der Tasche hätte er sicher einen guten Job gefunden, sagt er. Doch irgendwie sei das nichts für ihn gewesen. Er wollte lieber Musik produzieren und sei vor 13 Jahren nach Deutschland ausgewandert. Das quirlige Berlin schien genau der richtige Ort zu sein, um elektronische Musik zu machen. Es ließ sich auch alles gut an, erzählt der Grieche. Zuletzt habe er als Tontechniker für das Planetarium in Prenzlauer Berg gearbeitet.

Doch das prekäre Dasein eines Freiberuflers setzte ihm zu und er wollte gern einen sozialen Beruf ergreifen, etwas gesellschaftlich Nützliches tun. Freunde, die selbst Erzieher sind, haben ihm gesagt, sie könnten sich sehr gut vorstellen, dass das auch für ihn das Richtige sei. Nach fünf Monaten berufsbegleitender Ausbildung glaubt S. das mehr denn je. Er würde seine Ausbildung liebend gern fortsetzen. Die Berufsschule habe ihn ermutigt. Er müsse nur schnell einen anderen Arbeitgeber finden.

Aber bei einem anderen Kita-Landesbetrieb in Berlin würde es nicht klappen, dämpft Anwalt Knaisch die Erwartungen. Da würde dann wieder das Gutachten auf dem Tisch landen. Das Argument: Psychische Erkrankungen verlaufen nun einmal mit guten und schlechten Phasen. Der Patient könnte früher oder später wieder Depressionen bekommen. S. schüttelt enttäuscht den Kopf. Er weiß, Stress kann Depressionen auslösen. Mit dem Trubel in der Kita ist er klargekommen. Doch die soziale Unsicherheit, vor der er jetzt steht, das bedeutet Stress für ihn.

Der Witz dabei – aber das ist das falsche Wort bei so einer traurigen Angelegenheit: Selbstverständlich arbeiten Erzieherinnen und Erzieher mit Depressionen in den Kita-Eigenbetrieben von Berlin. Wenn diese aber die Hürde der Einstellungsuntersuchung genommen haben und die Probezeit vorbei ist, bevor sie psychisch erkranken, dann können sie natürlich nicht mehr rausgeworfen werden und machen ihre Arbeit oft ohne jede Beanstandung.

Errikos S. hat jetzt aber nur noch einen Ausweg, aufgezeigt von Anwalt Knaisch: Er solle es bei einem Freien Träger versuchen, wenn Erzieher wirklich sein Traumberuf sei. Vielleicht gebe ihm ein Freier Träger eine Chance. Der müsste sich um das Gutachten nicht scheren. Darauf hofft Errikos S. nun.

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