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Gaby Bischoff: »Solidarität ist keine Einbahnstraße«

Die Verhandlungen zum gemeinsamen europäischen Asylsystem müssen auch die Position des Parlaments berücksichtigen, fordert Sozialdemokratin Gaby Bischoff

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.
Die EU will das Asylrecht verschärfen, dagegen gibt es Widerstand.
Die EU will das Asylrecht verschärfen, dagegen gibt es Widerstand.

In Deutschland werben gerade Teile der Union für eine Abschaffung des individuellen Asylrechts. Auf EU-Ebene geht es jetzt an die Verhandlungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zwischen EU-Parlament, Rat und Kommission. Der Rat strebt eine Ausweitung der Drittstaatenregelung an, Menschenrechtsorganisationen bewerten das als De-facto-Abschaffung des individuellen Asylrechts. Wie sehen Sie das?

Gaby Bischoff: Für uns als S&D-Fraktion (Progressive Allianz der Sozialdemokraten) ist das zentrale Element für die anstehende Reform die Frage der Solidarität. Und zwar sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch mit Schutzsuchenden. Hier brauchen wir dringend Reformen, um das sicherzustellen. Als Europäer*innen können und dürfen wir das individuelle Recht auf Asyl nicht untergraben. Maßgeblich ist für uns das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Menschenrechtskonvention. Das europäische Projekt wurde auf den Trümmern von Krieg, Vernichtung und Vertreibung aufgebaut, viele Verfolgte haben in anderen Ländern der Welt Asyl und Schutz erhalten.

Es gab jetzt schon einige Verhandlungstermine im Trilog, können Sie dazu inhaltlich etwas sagen?

Die Verhandlungen sind gerade angelaufen, das ist im Moment noch zu früh. Aber ich denke, wir werden nach der Sommerpause unter spanischer EU-Ratspräsidentschaft mit Volldampf in die heiße Verhandlungsphase eintreten.

Deutschland, Irland, Luxemburg und Portugal wollen sich weiter für die Ausnahme von Familien mit Kindern unter zwölf in den Grenzverfahren einsetzen. Ist das ein Knackpunkt für Sie oder welche roten Linien gibt es, die aus Ihrer Sicht nicht überschritten werden dürfen?

Wir haben große Kritik an vielen Verhandlungspositionen des Rates und werden versuchen, hinreichende Kompromisse zu finden. Unsere Position als Parlament ist klar: Unbegleitete Minderjährige sowie Kinder unter zwölf Jahren und ihre Familienangehörigen sollen komplett vom Grenzverfahren ausgenommen werden. Für die S&D-Fraktion ist das einer der Punkte, den wir in den Verhandlungen verteidigen werden. 

An welchen Punkten gibt es noch Differenzen zwischen Parlament und Rat?

Wir wollen, dass das Konzept der sicheren Drittstaaten nicht verpflichtend anzuwenden ist. Außerdem setzen wir uns für einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus ein, der den Druck auf einen stark belasteten Mitgliedstaat abschwächen kann und gleichzeitig die Rechte von Asylsuchenden wahrt. Der Entwurf des Parlamentes sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Solidaritätsmaßnahmen zu 80 Prozent durch die Aufnahme von Geflüchteten aus den Staaten an den EU-Außengrenzen bereitstellen und zu 20 Prozent zum Beispiel durch Personal oder Geldzahlungen. Die Ratsposition stellt das den Mitgliedstaaten frei. Das kann in der Praxis nicht funktionieren.

Polen und Ungarn haben ja sogar diesen Vorschlag abgelehnt.

Der Solidaritätsmechanismus ist ein Kernelement, mit dem wir zeigen können, dass die EU auch in der Migrationspolitik handlungsfähig ist. Deshalb wird es im Rat sehr stark vom Verhandlungsgeschick der Präsidentschaften abhängen, ob sich für einen Kompromiss, der nicht nur die Position des Rates abbilden wird, sondern auch die Parlamentsposition berücksichtigt, entsprechende Mehrheiten finden werden. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Polen beispielsweise hat viel gemacht, was die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine anbelangt – und dabei auch europäische Solidaritätsmechanismen in Anspruch genommen.

Die Verhandlungen zur GEAS-Reform sollen vor den EU-Wahlen im kommenden Juni abgeschlossen werden. Woran liegt das, hat man Angst, dass es nach dieser Wahl einen noch stärkeren Rechtsruck geben könnte?

Es geht uns darum, so schnell wie möglich einen für alle Beteiligten tragbaren Kompromiss zu finden. Wir können es uns nicht leisten, die GEAS-Reform auf die lange Bank zu schieben, wohl wissend, was die direkten Konsequenzen für Schutzsuchende sind. Wir möchten den Bürger*innen vor der Europawahl zeigen, dass die EU ihre Differenzen überwinden und handlungsfähig sein kann bei den zentralen Herausforderungen unserer Zeit, die eben nur auf europäischer Ebene gelöst werden können. Das könnte großen Einfluss auf die Wahlen und die Wahlbeteiligung haben.  

Wenn der Rat keine Kompromisse eingeht bei Ihren genannten Kernpunkten und zum Beispiel darauf besteht, Kinder unter zwölf Jahren unter haftähnlichen Bedingungen festzusetzen – würden Sie so einen Kompromiss ablehnen?

Wir verhandeln derzeit unterschiedliche Richtlinien und Verordnungen im Rahmen der GEAS-Reform. Die Verhandlungen werden schwierig, aber auch der Rat weiß, dass er entsprechende Mehrheiten im Parlament braucht. Deshalb ist es wichtig, dass die Positionen des Parlaments ausreichend Berücksichtigung finden. Wir sehen außerdem, dass der Rat gespalten ist und in Teilen die Positionen des Parlaments unterstützt. 

Einige Nichtregierungsorganisationen sagen, wenn sich der Rat mit seinen Positionen durchsetzen würde, wäre keine Reform besser als diese.

Ich bin grundsätzlich jemand, der darauf baut, dass alle Seiten sich ihrer Verantwortung bewusst sind und wirklich verhandeln. Die jetzige Situation ist auch unhaltbar. Fragen Sie mal Bürger*innen beispielsweise in Italien, in den Regionen, in denen viele Geflüchtete ankommen. Sie fühlen sich mit den damit verbundenen Herausforderungen vielfach alleingelassen. Wir müssen außerdem sicherstellen, dass wir die Menschen registrieren, die hier ankommen, dass wir wissen, wer sich unter welchen Bedingungen hier aufhält. Gleichzeitig müssen wir unseren internationalen Verpflichtungen nachkommen.

Denken Sie, dass es möglich ist, eine Lösung zu finden, die die Menschenrechte genauso wahrt wie die Interessen der Staaten zur Migrationskontrolle? Wir sehen gerade, dass es nicht funktioniert und die Menschenrechte tagtäglich verletzt werden. Künftig werden noch mehr Menschen fliehen müssen. Ist da die beste Lösung, sich als EU weiter abzuschotten?

Das ist nicht die Position des Parlaments. Ich teile die Verhandlungsposition des Rates in vielen Punkten nicht und kritisiere sie. Aber unser Job als Parlament ist jetzt, möglichst viele unserer Positionen in den Verhandlungen durchzusetzen. Und am Ende schauen wir, ob wir dem Paket, das wir da schnüren, zustimmen können oder nicht.

Interview

Gaby Bischoff ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Sie wurde 2019 für die SPD ins EU-Parlament gewählt. Davor war sie Präsidentin der Arbeitnehmer*innengruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss.

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