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Höchste Eisenbahn

Die Reaktivierung von alten Strecken lässt in Brandenburg schon viel zu lange auf sich warten

Manches Gleis in Brandenburg dämmerte jahrelang als Draisinenstrecke oder ungenutzt vor sich hin.
Manches Gleis in Brandenburg dämmerte jahrelang als Draisinenstrecke oder ungenutzt vor sich hin.

Gegründet wurde die Bentheimer Eisenbahn AG 1895. Es gibt sie bis heute als kommunales Verkehrsunternehmen im niedersächsischen Landkreis Grafschaft Bentheim. Aber viele Jahrzehnte lang hatte sie keine Züge mehr, sondern nur noch Busse, zuletzt 75 an der Zahl, um ihre Fahrgäste zu befördern. Denn bis 1974 hatte die AG sämtliche Bahnstrecken stillgelegt. »Eine große Sünde, die wir heute bedauern«, gesteht Manager Ralf Uekermann. »Eisenbahn war unmodern. Modern war, mit dem Auto zu fahren«, erklärt er. Von den einstmals 75 Kilometern Streckennetz sind einige Kilometer im Grunde unwiederbringlich verloren. Denn dort wurden nicht nur die Gleise demontiert. Dort wurde auch die Trasse überbaut. Etwas über 60 Kilometer lassen sich allerdings reaktivieren und das geschieht nun schrittweise. Auf einem Stück fahren inzwischen schon wieder Personenzüge, mit denen unter anderem Schüler zum Unterricht kommen, und auch Güterzüge.

Uekermann ist am Freitag zu Gast auf einer Konferenz der Linksfraktion im brandenburgischen Landtag. Es geht um die Reaktivierung von Bahnstrecken im ländlichen Raum. Uekermann soll erzählen, wie das in der Grafschaft Bentheim gelang. Der Fachmann redet fast ohne Punkt und Komma und verliert sich manchmal auch in technischen Details. Aber eines wird in seinem Vortrag klar: Man muss es wirklich wollen und einfach machen!

23,5 Millionen Euro habe die Ertüchtigung von 28 Kilometern gekostet, rechnet Uekermann vor. Die Hälfte der Summe habe das Land Niedersachsen übernommen. Denke man an die Anschaffung der Triebwagen und die Einrichtung einer Werkstatt, dann habe das Projekt insgesamt sogar 60 Millionen Euro gekostet. Doch wer kein Geld habe, müsse sich halt umsehen, wo es Fördermittel gebe, sagt Uekermann, als sei das keine große Sache.

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So eine Beweglichkeit würde man sich in Brandenburg wünschen. Seit 1994 sind hier mehr als 500 Kilometer Bahnstrecke stillgelegt und nur acht Kilometer reaktiviert worden. Ein mehrjähriger Probebetrieb der Regionalbahn 63 auf dem Abschnitt von Templin nach Joachimsthal wurde im Dezember vergangenen Jahres wieder aufgegeben.

Dabei liegen die Vorteile des Schienenverkehrs auf der Hand. Züge verbrauchen deutlich weniger Fläche als Pkw, um dieselbe Zahl an Personen zu befördern. Der Bahnreisende kann im Gegensatz zum Autofahrer lesen, Briefe schreiben oder müde am Morgen noch ein Schläfchen machen. Der Bahnbetrieb schont Umwelt und Klima. Es kommen mehr Touristen. Die Einheimischen ziehen nicht mehr weg in die Städte. Gabriel Flore weiß das und sagt das. Er und seine Kollegen von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse Cooper haben das untersucht. Im Auftrag des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung haben sie sich sechs Reaktivierungsprojekte in Ost- und Westdeutschland angesehen; drei, die gelungen sind, darunter die Strecke vom sächsischen Sebnitz ins tschechische Dolni Poustevna, und drei wie die bayerische Steigerwaldbahn, bei denen es bis heute nicht klappte. Den Erfolg haben die Wirtschaftsprüfer auch daran gemessen, dass mit einer erfolgreichen Streckenreaktivierung die Immobilienpreise steigen. Das klingt zwar gar nicht gut für die Bevölkerung, heißt aber, dass eine Bahnanbindung für Zuzug sorgt.

Die Fragestellung der Untersuchung: Woran hat es jeweils gelegen? Das interessiert auch die brandenburgische Linksfraktion – und darum hat sie Flore per Video zugeschaltet. Von 1994 bis jetzt sei das deutsche Bahnnetz von 44 600 auf 38 400 Kilometer reduziert worden, legt er dar. Doch 2019 habe sich die Bahn dazu bekannt, keine Strecken mehr stillzulegen. Es sollen im Gegenteil alte Strecken reaktiviert werden. Aber das kostet Geld. Deutschland investiere nur 114 Euro pro Kopf und Jahr in die Schiene, so Flore. In Frankreich sind es mit 46 Euro zwar noch deutlich weniger. Aber viele europäische Länder geben da mehr aus, Tschechien zum Beispiel 171 Euro, Österreich 319 Euro und die Schweiz sogar 450 Euro. Für eine Bahnstrecke um jeden Preis spricht sich Flore nicht aus. Manchmal könne ein Schnellbus die bessere Lösung sein – auch deshalb, weil Streckenreaktivierungen viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte der Vorbereitung erfordern.

Davon kann Werner Faber, Geschäftsführer beim Verband deutscher Verkehrsunternehmen Ost, ein Lied singen. Er zählt die verschiedenen Planungs- und Genehmigungsstufen auf, die alle erst durchlaufen werden müssen, ehe die notwendigen Bauarbeiten überhaupt beginnen. Da gehen viele Jahre ins Land, eine Zeit, die man angesichts der Klimakrise eigentlich nicht hat. Dennoch zweifelt Faber nicht: »Politischen Willen vorausgesetzt, ist fast alles umsetzbar.« Ihn störe die »pseudomathematische Genauigkeit«, mit der ermittelt werde, ob sich eine Streckenreaktivierung lohne. Es solle dabei ein Wert über eins herauskommen. Es fehle am politischen Willen, wenn gesagt werde: »Es ist leider nur 0,9 herausgekommen – geht nicht!« Der Verbandsgeschäftsführer wird deutlich: »Das Land könnte sagen: ›Ich pfeife auf die Kosten-Nutzen-Rechnung!‹« Der öffentliche Personennahverkehr sei im Moment leider »unambitioniert« ausgebaut. »Wichtig auf dem Land wäre es, dass man zumindest mal den Zweitwagen überflüssig macht.«

Über eine Stelle zum Nutzen von Bahnstrecken geht Faber in seinem Folienvortrag schnell und sarkastisch hinweg: »Militärstrategische Funktion haben die Kollegen auch aufgeschrieben. Das lasse ich mal so stehen. Als Pazifist habe ich da eine andere, vielleicht schräge Position.«

Was in Koalitionsverträgen stehe, sei schön und gut, aber zu oft werde dann nichts daraus, bedauert Faber. Dazu passt, was die ehemalige Landtagsabgeordnete und Umweltministerin Anita Tack (Linke) sagt: »Ich bin traurig. Wir reden über die gleichen Themen wie seit 25 Jahren.« Sie habe nicht den Eindruck, dass es wirklich vorangehe. Aber die Linksfraktion will dranbleiben. Das verspricht ihr Verkehrsreferent Fritz Viertel – mit der Einschränkung: wenn es eine Linksfraktion nach der Landtagswahl im September 2024 wieder geben werde. In der jüngsten Umfrage landete Viertels Partei bei acht Prozent, aber da steht ja noch eine Spaltung im Raum.

Um ihren Einzug in den Landtag muss auch die FDP bangen, die seit 2009 nicht mehr die Fünf-Prozent-Hürde meisterte. Am Freitag meldet sich unabhängig von der Konferenz FDP-Verkehrsexperte Matti Karstedt zu Wort. »Die Schiene ist nicht nur ein Stück Eisen, sondern Lebensader für viele Regionen in Brandenburg«, sagt er. »Die Landesregierung muss den Netzausbau daher entschlossen vorantreiben.« Dazu gehöre auch ein zweiter Bahnring um die Hauptstadt, um die hochfrequentierte Trasse durch Berlin zu entlasten. »Auf einer Infrastruktur vergangener Jahrzehnte lässt sich keine Zukunft bauen.«

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