Nachhaltigkeitsziele 2030: »Halbzeitbilanz ist niederschmetternd«

Jens Martens über die Umsetzung der UN-Agenda 2030 zur nachhaltigen Entwicklung durch die Mitgliedsstaaten

  • Interview: Martin Ling
  • Lesedauer: 5 Min.
Kein Hunger ist das SDG Nummer 2: Rund 148 MillionenKinder unter fünf Jahren sind chronisch mangelernährt.
Kein Hunger ist das SDG Nummer 2: Rund 148 MillionenKinder unter fünf Jahren sind chronisch mangelernährt.

Der zweite Gipfel zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen am 18. und 19. September markiert die Halbzeit der Agenda 2030. Der von UN-Generalsekretär António Guterres vorgelegte Fortschrittsbericht weist so viele Fortschritte nicht auf, oder?

Die Halbzeitbilanz ist in der Tat niederschmetternd. Die Regierungen hatten in der Agenda 2030 ja 17 Nachhaltigkeitsziele, die SDGs, und 169 Zielvorgaben vereinbart, die überwiegend bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind die Länder nur bei 15 Prozent der Zielvorgaben im Plan. Bei den übrigen 85 Prozent sind die Fortschritte unzureichend oder die Entwicklung verläuft sogar in die falsche Richtung. Das gilt unter anderem für die Ziele zur Armutsbekämpfung, zur Reduzierung von Ungleichheiten und zum Schutz der biologischen Vielfalt.

Seit dem ersten SDG-Gipfel 2019 haben die Corona-Pandemie, der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine und die fortschreitende ökologische Dreifachkrise aus Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Umweltverschmutzung die Staatengemeinschaft weiter zurückgeworfen. Die Schuldenkrise in weiten Teilen des Globalen Südens kommt obendrauf. Sind die SDGs damit komplett außer Reichweite?

Nein, viele der Ziele sind nicht außer Reichweite. Aber um sie zu erreichen, wären grundsätzliche Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft notwendig. Die Agenda 2030 hat nicht von ungefähr den Titel »Transformation unserer Welt«. Aber die geforderte Transformation hat bisher nicht stattgefunden. Nach 2015 ist es nicht gelungen, Wirtschaft und Gesellschaft flächendeckend auf einen CO2-neutralen Kurs zu bringen. Außerdem hat die Fiskalpolitik nicht verhindert, sondern eher befördert, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergegangen ist. Weltweit hat die extreme Armut in den vergangenen Jahren zugenommen, aber auch der extreme Reichtum. Und schließlich haben die reichen Länder ihre Zusagen zur Unterstützung der Länder des Globalen Südens weder bei der Entwicklungszusammenarbeit noch bei der Klimafinanzierung eingehalten. Stattdessen haben sie sie zum Beispiel beim Wettlauf um Impfstoffe brutal zur Seite gedrängt. Die Folge ist ein massiver Vertrauensverlust und Misstrauen gegenüber jeglichen Politikrezepten, die im Globalen Norden formuliert werden.

Welche zentralen Stellschrauben müssten nun in New York gestellt werden?

Dreh- und Angelpunkt sind bessere öffentliche Institutionen, Politiken, die die Interessen der Länder des Globalen Südens respektieren, und mehr Geld für die SDGs. In diesem Sinne hat der UN-Generalsekretär von den Regierungen einen »Rettungsplan für die Menschen und den Planeten« gefordert, der drei Bereiche umfasst: Erstens sollen die Institutionen, die für Nachhaltigkeit zuständig sind, gestärkt werden – von der globalen bis zur lokalen Ebene. Zweitens sollen Politiken Priorität erhalten, die Multiplikatoreffekte für die Verwirklichung der SDGs haben. Und drittens fordert er ein »SDG Stimulus«, das heißt ein globales SDG-Konjunkturprogramm in Höhe von mindestens 500 Milliarden Dollar pro Jahr. Es soll vor allem die ärmeren Länder des Globalen Südens bei der Umsetzung der Agenda 2030 unterstützen.

Die SDGs richten sich ausdrücklich auch an die Industriestaaten. Laut den Plänen zum Haushaltsentwurf will die Bundesregierung im Verlauf dieser Legislaturperiode die Entwicklungszusammenarbeit um rund ein Viertel und die humanitäre Hilfe sogar um mehr als 40 Prozent kürzen. Klingt nicht zielführend, oder?

Was Olaf Scholz zum SDG-Gipfel mitbringt, war vorab nicht bekannt. Fest steht lediglich, dass in New York auch der 50. Jahrestag des Beitritts der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen gefeiert werden soll. Dies wäre eigentlich ein guter Anlass, um Deutschlands immer wieder beschworenes Bekenntnis zum Multilateralismus unter Beweis zu stellen. Dass die Bundesregierung zeitgleich im Bundestag einen Haushaltsentwurf einbringt, der für 2024 erhebliche Kürzungen der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe vorsieht, ist ein fatales Signal in die falsche Richtung. Wenn die Ampelkoalition den Alarmruf des UN-Generalsekretärs ernstnimmt, muss sie die Kürzungspläne im Bundestag dringend revidieren. Warum gibt es eigentlich ein Sondervermögen Bundeswehr, aber kein Sondervermögen für die zivile Krisenprävention? Denn genau darum geht es letztlich bei der Agenda 2030 und ihren Nachhaltigkeitszielen.

Was unternehmen zivilgesellschaftliche Organisationen, um Druck für die Umsetzung der SDGs zu machen?

Zivilgesellschaftliche Gruppen formulieren parallel zum SDG-Gipfel auf einer globalen People’s Assembly in New York ihre Erwartungen an die Regierungen. Was aber vor allem Mut macht, ist die Mobilisierung gesellschaftlichen Protests von unten, wie zuletzt beim globalen Klimastreik am 15. September. Die Gruppe dort beziehen sich nicht notwendigerweise auf die SDGs und die Agenda 2030, aber sie adressieren ihre Themen. Das ist allerdings auch bitter nötig, denn ohne das Engagement der Zivilgesellschaft wird es bei der Verwirklichung der SDGs keine Fortschritte geben.

Was lässt sich als Ergebnis vom SDG-Gipfel erwarten?

Das offizielle Ergebnis des SDG-Gipfels wird eine Politische Erklärung sein, die viel blumige Prosa enthält. In ihr ist die Rede vom Bekenntnis zur internationalen Solidarität, zum Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Geschlechtergerechtigkeit. Dort, wo es konkret werden müsste, bleibt die Erklärung vage. So scheiterten beispielsweise konkrete Zusagen für das vorgeschlagene SDG-Konjunkturpaket am Widerstand der USA und ihrer Verbündeter. Angesichts der geopolitischen Konflikte kann es aber schon als Erfolg gewertet werden, dass überhaupt eine gemeinsame Erklärung aller Staaten im Konsens verabschiedet wird – ein Zeichen, dass der Multilateralismus nicht völlig am Boden liegt. Aber als Antwort auf die globalen Krisen ist das viel zu wenig.

Interview


Jens Martens ist Geschäftsführer des Global Policy Forums Europe. Er ist Mitautor eines aktuellen Reports zur Halbzeitbilanz der Agenda 2030.

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