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  • Pauls Dessaus »Lanzelot. Oper in 15 Bildern«

Musikalisches Welttheater

Paul Dessaus Opernhauptwerk »Lanzelot« ist endlich eingespielt

  • Kai Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit Waffen von Arbeitern siegt Ritter Lanzelot in Paul Dessaus Oper über den Drachen.
Mit Waffen von Arbeitern siegt Ritter Lanzelot in Paul Dessaus Oper über den Drachen.

Im Steinzeitdorf herrscht Not. Die Cholera wütet – als Strafe der Götter für die vielen Sünden, wie der Medizinmann verkündet. Vielleicht aber könne man überleben, wenn man abgekochtes Wasser trinke. Hier hilft der Drache, der das Wasser mit seinem feurigen Atem erhitzt. Nach diesem Beweis seiner Nützlichkeit tritt er seine Regierung an, zumal man ihn braucht, um fremde Drachen abzuwehren.

Klassenherrschaft entstand aus Notwendigkeit; und mit gleicher Notwendigkeit muss sie einige Geschichtsepochen später wieder beseitigt werden. Als die Haupthandlung der Oper einsetzt, diktiert der Drache seine Memoiren und betrachtet eine Vielzahl von Porträts, die seine Wandlung »vom Saurier zum Industriekapitän« zeigen. Er ist nun gewalttätiger Machthaber in einer Stadt, deren Bürger sich ihm gerne unterwerfen. Die jährliche Heirat steht an, wie üblich mit einer Jungfrau, deren Lebenserwartung sehr begrenzt ist. Lanzelot, erprobter Held und Töter von Ungeheuern, kommt an und nähme den Kampf sogar auf, wenn er sich nicht sogleich in Elsa, der aktuellen Heiratskandidatin, verlieben würde. Die Bürger wollen von einer Befreiung nichts wissen; die Arbeiter aber statten ihn mit jenen Waffen aus, die schließlich den knappen Sieg über den Drachen sichern.

Paul Dessaus 1969 an der Berliner Staatsoper uraufgeführte Komposition ist sein Hauptwerk. Trotz der bekannteren Brecht-Zusammenarbeit »Verurteilung des Lukullus«, trotz der vielschichtigen Wissenschafts- und Atomwaffenoper »Einstein«: Nirgends findet sich ein so umfassender Entwurf, der von den Anfängen der Staatengeschichte bis zum Übergang in den Kommunismus reicht. Die künstlerischen Mittel sind entsprechend reichhaltig. Heiner Müllers Libretto nach Jewgeni Schwarz’ Stück »Der Drache« verknüpft Märchenhandlung, Politsatire und Geschichtsdrama. Die Musik reicht von der tonal komponierten Idylle im Vorspiel vor dem Ausbrechen der Seuche bis zur Zwölftönigkeit, von der Übernahme barocker Muster bis zur Jazz-Improvisation. Zu der Schlacht mit dem Drachen zitiert Dessau sozialistische Kampfmusik, nämlich das von ihm komponierte »Lied der Thälmann-Kolonne« aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Der Gesang des erschöpften Lanzelot nach dem Kampf mit dem Drachen wird über drei Minuten nur vom Solo-Cello begleitet. An anderen Stellen lärmen Donnerblech und Windmaschine, tönen Lautsprecherdurchsagen und Maschinengewehrgeratter. Zu einer starken Bläser- und Streicherbesetzung treten zahlreiche Schlaginstrumente, für die allein sieben Spieler nötig sind.

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man das Werk mit der Vielzahl seiner Stile für einen Vorläufer der musikalischen Postmoderne halten. Doch hat Dessau damit nichts zu schaffen. Er verabschiedete nicht den geschichtlichen Fortschritt, sondern wollte die Figuren und Szenen mittels sozial bestimmter Musik möglichst klar charakterisieren. Sein politisches Bewusstsein unterscheidet ihn auch von Bernd Alois Zimmermann, der als Avantgardist in der BRD und Außenseiter einer formalistischen Avantgarde mit seinen »Soldaten« ein vergleichbares musikalisches Totaltheater geschaffen hat. Zimmermanns Konzept einer »Kugelgestalt der Zeit« kennt nur immerwährende Gewalt. Der Marxist Dessau dagegen weiß, welcher Kampf nötig ist, um die Klassenherrschaft zu überwinden.

Bleibt aber das praktische Problem des nötigen Aufwands. In Berlin war das Werk elfmal zu hören – nicht wenig für eine Novität, und damit dürfte das an einem derart anspruchsvollen Werk interessierte Publikum auch ausgeschöpft gewesen sein. Zeitnah folgten Inszenierungen in München und Dresden. Dann war die Oper für fast vierzig Jahre verschwunden, bis sich das Nationaltheater Weimar des Werks annahm und Peter Konwitschny es 2019 auf die Bühne brachte. Der Mitschnitt einer Aufführung ist nun auf CD erschienen.

Das Ergebnis verdient in fast jeder Hinsicht Bewunderung. Nicht nur die Hauptrollen sind mit Oleksandr Pushniak (Drache), Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot) und Emily Hindrichs (Elsa) hervorragend besetzt. Auch für die sehr zahlreichen Nebenrollen fand das nur mittelgroße Haus überzeugende Sängerinnen und Sänger. Das Ensemble weist ebenso wenig Schwachpunkte auf wie die beteiligten Chöre und die Staatskapelle Weimar unter Dominik Beykirch. Großartiges hat die Klangtechnik geleistet. Die Dynamik ist ausgeschöpft, ohne je übersteuert zu wirken, und auch die komplexesten Schichtungen sind gut durchhörbar. Das trägt dazu bei, die zweifache Qualität von Dessaus Musik zu verdeutlichen: als durchdachte Großform über 130 Minuten hinweg und als szenische Vorgabe für den Gestus der Figuren.

Mürrisch stimmt nur das Beiheft, in dem die Oper als Protest gegen autokratische Herrscher überhaupt, einschließlich Stalin und Walter Ulbricht, hingestellt wird. Doch steht erstens der Drache in seiner letzten Gestalt unmissverständlich für die faschistische Form bürgerlicher Herrschaft. Zweitens ist mit Lanzelots Sieg über ihn noch nichts gewonnen. Die Bürger lügen, dass sie die Freiheit erkämpft hätten und wollen à la früher BRD die Politik des Drachen, den sie nach außen hin verfluchen, fortführen. Lanzelot muss ein zweites Mal eingreifen und die, nun demokratisch getarnte, Klassenherrschaft beseitigen. Erst sein zweiter Sieg führt zu dem utopischen Ausblick, der das Werk beschließt. Fragt man nach der Aktualität der Oper, so ist die Antwort ungemütlich.

Paul Dessau: »Lanzelot. Oper in 15 Bildern« (audite)

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