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Hawkwinds »Space Ritual«: Der Sound der Weltflucht
Hawkwinds »Space Ritual« ist schon stolze 50 Jahre alt
Hawkwind – das sind die Schöpfer des Spacerock, einer im Jahr 1969 in Großbritannien gestarteten Fluchtbewegung des Geistes, zusammengerührt aus Psychedelia, kulturell angeeignetem Krautrock, »2001: A Space Odyssey« und haufenweise weiteren Science-Fiction-Motiven. Ihr erstes Konzert fand einen Monat nach der ersten bemannten Mondlandung statt, vorgetragen mit apokalyptischer Drohgebärde und schwerem Rock, dessen frühe subsonische Elektroniksounds fortan beim Publikum schon mal für Magenprobleme sorgen sollten.
Hawkwind waren angesiedelt im Londoner Anarcho-Viertel Notting Hill, wo sie sich und ihre Anhängerschaft aus den Trümmern des kollabierten Hippie-Traums in ein imaginiertes All jammten, das zum Elysium werden konnte, aber auch zur existenziellen Gefahr, kurzum: zum großen Abenteuer. »Time We Left This World Today« ist einer ihrer Songtitel dieser Zeit. Hawkwind gelten als Missing Link zwischen Psychedelia und Punkrock, als »barbarians with electronics«, als kollektivistische »people’s band« und einflussreiche Underground-Heroen, die lustvoll den Optimismus des Space Age schredderten. Lemmy Kilmister, späterer Boss von Motörhead, war bis 1975 ihr populärer Bassist. Sie wurden assoziiert mit »bewusstseinserweiternden« Science-Fiction-Strömungen wie der »New Wave«, und Schriftsteller und Comic-Künstler haben sie in ihre Werke eingearbeitet.
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Um 1972 herum waren sie groß im Vereinigten Königreich, tourten unablässig und überzeugten die Jugend in den tristen Industriestädten und den schwermütigen Kleinstädten von der zwingenden Notwendigkeit der Weltflucht. »A Space Ritual«, das Doppelalbum, das die maßgebliche 72er-Tournee dokumentierte und ausgestattet war mit Artwork des späteren Star-Popdesigners Barney Bubbles, wurde im Jahr darauf zu Hawkwinds Markstein auf diesem Planeten, zu einer Kollektivleistung aus Heavy-Rock-Jams, Melodie, Elektroniksounds und verdichteten Riffs, die bis zum Kältetod des Universums halten werden. Und mit der erstaunlich zarten Poesie von Frontmann Robert Calvert oder Science-Fiction-Größe Michael Moorcock. Ein Parabelflug des Geistes durch die große Leere: »Down, down and down, into the blackness we drown.« Soeben ist eine neu abgemischte Version zum 50. Jubiläum von »Space Ritual« erschienen, deren Luxus-Edition für die ganz Hartgesottenen gleich drei komplette Konzerte jener legendären 72er-Tournee bereithält.
Selbstverständlich wurde auch Deutschland von Hawkwind beschallt, aber sie sind vielen heute nur blass in Erinnerung als Schöpfer des Space-Boogies »Silver Machine«. Es könnte daran liegen, dass hierzulande die Sozialpädagogen den Heranwachsenden seit jeher verklickert haben, Weltflucht sei etwas Verwerfliches. Und Hawkwind waren in dieser Hinsicht besonders suspekt, denn sie motivierten nicht nur zur Flucht in die Imagination, sie verstanden dies regelrecht als revolutionäres Konzept, das sie dem Publikum mit mörderisch hoher Beats-per-minute-Rate einhämmerten. Für sie war »radical escapism in the age of paranoia« (so der Untertitel eines popkulturellen Buchs über die Band) nun mal die einzige Lösung. Das galt damals, das galt zwischendurch, und gilt heute erst recht.
Spannender noch als die Landmarke »Space Ritual« ist das, was daraus wurde. Hawkwind glitten langsam aus der öffentlichen Wahrnehmung hinüber in ein Paralleluniversum mit eigenen physikalischen Gesetzen, das aller kosmischen Strahlung und aller Sonnenstürme zum Trotz dem Kollaps entgangen ist und sich großer Stabilität und einer generationenübergreifenden Fanbase erfreut. Die Band ist inzwischen 54 Jahre alt, so alt wie die erste Mondlandung, und sie verkauft in Großbritannien heute noch ihre Tickets für die Royal Albert Hall binnen Stunden.
Trotz aller Häutungen haben Hawkwind sich ihren Persönlichkeitskern stets bewahrt. Dieser Kern heißt Dave Brock, einziger Überlebender der Ur-Besatzung, Captain of the good Spaceship, Herr der Gitarrenriffs und der Sequencer, er ist heute 82 Jahre alt.
Nach jener Hochphase des »Space Ritual« haben Brock und Konsorten einen audiophilen Abenteuerspielplatz erschaffen aus Progressive Rock, Art Rock, Punk und Wave-Rock, Heavy Metal, Neo-Prog, Jazzrock, New Age, Techno und Ambient und Industrial, World Music, Stoner Rock, Post-Rock – eine summa scientia. In der zweiten Hälfte der 70er übernahm Dichter und Sänger Robert Calvert die kreative Federführung, verwandelte die Band in ein Punk-Wave-Kunstprojekt und füllte ihre Platten an mit satirischer Gesellschafts- und Wissenschaftskritik, die heute wieder aktuell zu werden scheint. Follow the science? »Bloß nicht!«, scheint der 1988 zu jung verstorbene Calvert uns aus seinen Lyrics gutgelaunt zuzurufen. Diese Platten erhielten mit der ebenfalls 2023 erschienenen Box »Days of the Underground« ihre letztgültige, neu abgemischte Soundgestalt als frei in Zeit und Raum rotierende Krachmacher von perfekter Eleganz.
Das alte Raumschiff ist auch heute noch gut in Schuss. Das neue Studioalbum »The Future Never Waits« (ebenfalls 2023) könnte sich kaum stärker unterscheiden vom »Space Ritual« 50 Jahre zuvor, und dennoch ist das natürlich dieselbe Band. Nur ist aus der Flucht in die Mahlströme des Kosmos nun ein altersweiser, philosophischer Blick hoch zu den Spiralnebeln des Geistes geworden, eine Ambient-Studie von irrsinniger Soundtiefe, voller kosmischer Rotationsmusik und Restbeständen melancholischen Schweinerocks – inklusive eines Stücks über Aldous Huxleys Todesstunde, in der er sich LSD verabreichen ließ, um zu erfahren, wie das wohl ist.
Dave Brock hat es stets verstanden, fantastische Musiker und Frontleute um sich zu scharen, Virtuosen und Dichter, manchmal auch nur Schaumschläger. Sie kamen und gingen, Zerwürfnisse und menschliche Dramen inbegriffen, und erzeugten an- und abschwellende Töne über stoischem Heavy-Rock und unter Stroboskop-Bombardements. Weltraumkathedralen, erbaut aus Licht und Lärm. Auf der jüngsten Live-Platte »We Are Looking In On You« (2022) gibt es eine 17-minütige Wiederweckung des »Ritual«-Klassikers »Born To Go«, der mitten im Lärm-Orkan zu einem abrupten Halt kommt, um eine zärtliche Sound-Elegie einzuschieben, die in einem nicht für möglich gehaltenen Slingshot-Manöver langsam zurückmorpht zum Klangbrutalismus des Beginns. Keine andere Band geht so mit ihren Klassikern um, und auf der Dinosaurier-Freilauffläche, dort, wo die ganz, ganz alten Bands grasen, scheint Hawkwind das agilste Reptil zu sein.
Luxus-Edition von »Space Ritual« (Foto: Cherry Red Records)
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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