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Berliner Jugendsozialarbeit fordert mehr Geld, Zeit und Personal

Seit Jahren schlägt die Berliner Kinder- und Jugendhilfe Alarm, jetzt stellt sie Forderungen an den Senat

Mehr Geld, mehr Personal: Heide Westermann (re.) und ihre Kolleg*innen sammeln Forderungen für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe.
Mehr Geld, mehr Personal: Heide Westermann (re.) und ihre Kolleg*innen sammeln Forderungen für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe.

»Jugendämter schlagen Alarm«, »Notzustand in der Jugendhilfe«, »Jugendsozialarbeit vor dem Kollaps«: Dutzende Artikel mit solchen und ähnlichen Titeln hängen am Dienstagvormittag ausgedruckt und laminiert an einer Wäscheleine, die sich über den Vorplatz des Roten Rathauses spannt. Die Schlagzeilen sind zum Teil über zehn Jahre alt – und haben doch nichts an ihrer Aktualität verloren. Denn der Berliner Kinder- und Jugendhilfe fehlt es an Geld und Personal, und das schon seit Jahren. Das führt zu Überlastung und Burnout bei den Beschäftigten und zu einer Benachteiligung der Kinder und Jugendlichen, die Armut, Ausgrenzung oder Vernachlässigung erleben und eigentlich besonders dringend Unterstützung bräuchten.

Um Gehör zu finden, hat die Arbeitsgruppe Weiße Fahnen zu einem eigenen Gipfel vor dem Roten Rathaus aufgerufen. Gemeinsam mit den Landesgruppen der Gewerkschaft für Erziehung und Bildung (GEW) und des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit (DBSH) hat das Bündnis Berlins Sozialarbeiter*innen aus allen möglichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe eingeladen. Und sie sind gekommen: Mehrere Hundert Menschen verteilen sich auf die sieben roten Zelte, die einen Ort zum Austausch über die jeweiligen Arbeitsbereiche bieten. Eine Stunde haben sie Zeit, um Forderungen aufzuschreiben, die dann der Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) mittags entgegennehmen wird. »Wir sind es leid, dass in einer neoliberalen Politik immer weiter gekürzt wird«, sagt Verena Bieler vom DBSH zum Auftakt. »Das hat jetzt ein Ende!«

In einem Zelt steht Conny Bredereck. Sie engagiert sich bei der GEW Berlin und arbeitet in der Schulsozialarbeit. Nachdem sie lange an einer Berliner Schule tätig war, berät sie jetzt als Supervisorin andere Schulsozialarbeiter*innen und bekommt dadurch viel von ihren Sorgen und Problemen mit. Ein Dauerbrenner: Personalmangel. »Wir haben teilweise Schulen mit 1000 Schülern und nur einer Schulsozialarbeiterin, im schlimmsten Fall mit nur einer halben Stelle.« Dabei hätten die Schüler*innen einen steigenden Bedarf an Beratung und Unterstützung. »Die Lebenswelt hat sich verändert. Wenn sich gesellschaftliche Problemlagen zuspitzen, spiegelt sich das in der Schule wieder.«

Die Lehrkräfte allein könnten unmöglich die Probleme der Kinder und Jugendlichen abfangen. Doch weil es zugleich an Lehrkräften mangelt, würden den Schulsozialarbeiter*innen oft Aufgaben zugewiesen, die eigentlich nicht zur ihrer Arbeit zählten, so Bredereck. »Ein typisches Beispiel ist die Pausenaufsicht: Eigentlich sollte die Schulsozialarbeit in der Pause niedrigschwellig ansprechbar sein. Aber sie wird oft für die Aufsicht eingeteilt und muss dann stattdessen für Ordnung sorgen.«

Unter einem anderen roten Pavillon sammelt Heide Westermann die wichtigsten Punkte, die sich im Bereich der stationären und teilstationären Kinder- und Jugendhilfe ändern sollten. Auch hier liegt der Fokus auf Geld und Personal. »Die Gehälter bei freien Trägern sind nochmal deutlich schlechter als im öffentlichen Dienst«, so die Sozialarbeiterin, die selbst in einer Wohngruppe arbeitet. Schuld daran seien alte Rahmenvereinbarungen, die viel zu geringe Kostensätze pro Kind pro Tag veranschlagten und nicht ausreichende Krankheitsvertretungen mit einberechneten. Wenn ein*e Erzieher*in krank würde, müsste ein*e Kolleg*in einspringen. »So ist eigentlich Frei-Haben nie ganz sicher.«

Die Überlastung ihrer Erzieher*innen bleibt den Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen nicht verborgen. Lillith ist gemeinsam mit ihren Mitbewohner*innen und einer Betreuerin zu dem Gipfel gekommen. »Bei uns in der Wohngruppe haben die ein Büro und man kann hingehen und über irgendwas sprechen«, sagt die 17-Jährige. »Aber wenn sie so viel zu tun haben, haben sie manchmal keine Zeit für uns.« Sie wünscht sich außerdem mehr Geld. Zurzeit erhalte sie 21 Euro Taschengeld pro Woche und 40 Euro Bekleidungsgeld pro Monat. »Das ist schon ziemlich wenig.«

Sie und andere Jugendliche sammeln am Dienstag in einem eigenen Zelt für die Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe Forderungen und Lösungsvorschläge. Als zur Mittagszeit die Ergebnisse aus den einzelnen Runden in der Anwesenheit Falko Lieckes präsentiert werden, stellen sich Milan und Khaled auf die Bühne und lesen abwechselnd vor: »Mehr Personal!«, »Mehr Geld für Personal!«, »Mehr Zeit für Jugendliche!«, »Mehr Taschengeld und mehr Geld für Ausflüge und für Essen!« – nach jeder Forderung jubeln die Sozialarbeiter*innen im Publikum. Vorschläge, wie das Geld heranzuschaffen sei, haben die Jugendlichen auch parat. »Weniger Geld für Waffen!«, ruft der eine. »Weniger Geld für Politiker!«, der andere.

»Das ist für mich keine ernsthafte Debatte«, sagt Liecke zu dem letzten Punkt. Auch wenn er nicht beim eigenen Gehalt ansetzen will, verspricht er doch Maßnahmen, die zumindest etwas mehr finanzielle Sicherheit gewährleisten sollen. So soll in Zukunft die Finanzierung der Träger, die nicht unter die Regelförderung fallen, von einem auf zwei Jahre ausgeweitet werden. Außerdem will er die Rahmenbedingungen »besser machen«. Er kündigt ein Auswertungsgespräch in kleinerer Runde an, wo etwa ein gemeinsamer Fachtag für das kommende Jahr geplant werden könnte. Von höheren Gehältern und Mitteln gegen den massiven Fachkräftemangel ist erstmal keine Rede.

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