Israel hat keinen Plan für den Gazastreifen

Wie Hamas im Gazastreifen die Kontrolle übernahm

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 8 Min.
Hamas: Israel hat keinen Plan für den Gazastreifen

Kriege verliert nun wirklich niemand gerne«, sagte Boutros Boutros-Ghali 2014 in einem Gespräch über den Gazastreifen. »Aber im Nachhinein waren wir wirklich froh, dass wir diesen verfluchten Ort los waren.« 1977 war der spätere Generalsekretär der Vereinten Nationen Ägyptens Außenminister. Großes stand bevor, wirklich Großes: Nur wenige Jahre, nachdem Ägypten zusammen mit anderen arabischen Staaten am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur überraschend Israel angegriffen und verloren hatte, war Staatspräsident Anwar al-Sadat drauf und dran, dorthin zu fliegen, vor der Knesset zu sprechen und Frieden anzubieten. Längst nicht mehr auf der Wunschliste: der Gazastreifen, den man mit kurzer Unterbrechung seit 1948 kontrolliert hatte. »Die Israelis waren glücklich, dass sie ihn hatten, und wir vermuteten längst, dass sich die Dinge in keine angenehme Richtung entwickeln würden«, so Boutros-Ghali.

Vor einer Woche startete die Hamas einen Angriff auf Israel: Tagelang zogen hunderte Terroristen mordend durch israelische Ortschaften; Tausende Raketen wurden abgeschossen. Rasant nähern sich die Opferzahlen an die des Jom-Kippur-Kriegs an. Rund 150 Menschen wurden in den Gazastreifen entführt. Das israelische Militär beschießt seitdem hunderte Ziele im Gazastreifen. Auch dort ist die Zahl der Toten hoch.

Woher kommt das? Eine mögliche Antwort liefert ein Blick in die Vergangenheit, auf die Entwicklung des Gazastreifen, eines Ortes, an dem die Menschen von den Träumen und Visionen und Illusionen der Politik in ihrem Jahrzehnte langen Hickhack zermalmt wurden, bis sie begannen, ihren Halt in einfachen Antworten auf komplizierte Fragen zu finden. Die Leute, die sie gern zur Verfügung stellten, standen bereits bereit.

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1948 war die Region in Aufruhr. Großbritannien hatte das Mandat über die Region Palästina aufgegeben, seine Truppen abgezogen; das neu gegründete Israel und die arabischen Staaten befanden sich im Krieg. Hunderttausende Palästinenser waren auf der Flucht. Und viele davon fanden Zuflucht im Gazastreifen, der während des Kriegs unter ägyptische Kontrolle geraten war.

Ägyptens Militär hatte einen regelrechten Keil in das israelische Staatsgebiet getrieben; der Gazastreifen war entstanden. Und in den ersten Jahrzehnten drehte sich auf beiden Seiten alles um Drohung und Bedrohung. Was man nicht sah, war, dass durch den Umgang der Ägypter mit den Menschen in Gaza etwas entstand, das den Krieg zwischen den beiden Nachbarn um viele Jahre überdauern würde.

Nach außen hin sei Gaza-Stadt damals kaum von anderen Städten der Region zu unterscheiden gewesen, sagen jene, die vor 1967 dort lebten. Frauen mit Kopftuch habe man in den ersten Jahren selten gesehen; die Geflohenen hatten von den jüdischen Einwanderern zudem eines übernommen: die westliche Sicht auf politische Ideologie, den Säkularismus. Die sich durch ihre Abstammung vom Propheten legitimierenden Königshäuser der Region lehnten viele ab; man suchte nach Antworten. Auf Israel. Auf die Frage, wie der eigene, noch zu gründende Staat aussehen sollte.

Es ist Juni 2022, der bislang letzte Besuch in Gaza. Die Straßen lehren sich zum Gebet; die Frauen tragen Kopftuch. Man kann sie nicht zählen. Aber es scheint jetzt noch mehr Moscheen zu geben als früher. Die Armut, die völlig heruntergekommene Infrastruktur, die Enge der Abschottung haben die Atmosphäre noch bedrückender gemacht. Was es in den Läden zu kaufen gibt, ist meist viel günstiger als in Israel oder im Westjordanland. Und trotzdem sind selbst eigentlich alltägliche Produkte für die meisten unerschwinglich. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Löhne sind niedrig. Und auf der anderen Seite, in den ausländischen Botschaften, im israelischen Regierungsviertel sagen alle, dass man wisse, dass man bald eine Lösung finden müsse. Denn Hunger, Unter- und Fehlernährung, Krankheiten, Drogen und Sucht haben die Menschen im Würgegriff. Und Wut.

In den Jahren nach 1948 propagierten die Regierungen der arabischen Welt eine Vision, eine Forderung: Israel werde einem palästinensischen Staat Platz machen, dann könnten die Flüchtlinge zurückkehren. Um nicht den Eindruck zu erwecken, dass man davon abrückt, dass die Versorgung der Geflohenen gar Angelegenheit der Gaststaaten sei, gab man den Menschen keine Bürgerrechte. Reglementierte teils sogar die Bewegungsfreiheit oder die Art der Jobs, die sie ausüben durften.

Im Gazastreifen entstand zudem eine ganz besondere Situation: Der ägyptischen Regierung waren die politischen Debatten ein Dorn im Auge. Sehr schnell wurde ein sehr umfassender Polizeiapparat aufgebaut, der die Menschen ständig bespitzelte. Wirtschaftlich jedoch überließ man die Menschen sich selbst und den Vereinten Nationen, die für die Versorgung sorgen sollten, so wie es die Doktrin vorsah. Es entstand eine Lücke, in der Armut um sich griff. Und die Muslimbruderschaft half aus.

In den 1920er Jahren gegründet, um islamische Werte in Politik und Gesellschaft zu verbreiten und gegen den westlichen Einfluss in Ägypten zu kämpfen, punktete die Organisation im Gazastreifen mit einem einfachen Konzept: Suppenküchen füllten die Mägen, auch um Schulbildung kümmerte man sich, wobei die Lehrpläne eine ordentliche Portion Islam gemixt mit einer kräftigen Prise Politik enthielten. Der Erfolg setzte schnell ein: Die Zahl der Moscheen stieg rapide, die Menschen wurden religiöser, aber auch politisch und gesellschaftlich konservativer. Der Nährboden für die Hamas entstand damals, auch wenn es bis zu ihrer Gründung noch Jahrzehnte dauerte.

Und er wurde immer fruchtbarer, je länger die Marginalisierung, die Isolierung, die Perspektivlosigkeit anhielt. Und in der Geschichte des Gazastreifens gab es kaum Zeiten, in denen es mal so etwas wie Hoffnung auf ein besseres Leben gab.

Als 1967 der Sechstagekrieg ausbrach, war Gaza für die Ägypter nur noch mit Mühe und hohen Kosten kontrollierbar. Man sehe dort das ägyptische Militär, die Regierungsvertreter zunehmend als Besatzer, schrieb 1966 ein Mitarbeiter der Verwaltung nach Kairo und forderte, man müsse mehr tun, um den Menschen das Gefühl zu geben, dass sich Ägypten um sie kümmere. Eine Antwort bekam er nicht.

Ein Jahr später fiel Gaza dann an Israel, wo man sich vor allem darüber freute, dass man sich nun nicht mehr in der Schusslinie des ägyptischen Militärs befand. Was die Palästinenser betraf, hatte man vor allem die militanten Gruppen unter dem Dach der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) auf dem Schirm. Und auch die neuen Besatzer taten nichts, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu fördern oder wenigstens Handlungsspielraum zu ermöglichen. Im Gegenteil: Die israelische Regierung schuf ein System der Ungleichheit, das für alle deutlich sichtbar und spürbar war. Schon 1970 wurde die erste Siedlung gebaut; schnell kamen mehr hinzu, entstand ein eigenes Straßensystem, das die Siedlungen untereinander verband. Dort standen schöne Häuser, gab es Wasser anscheinend im Überfluss und auch sonst war alles da. Hier blieben die Gebäude von jeder Schönheit verschont, musste man mit knappen Ressourcen umgehen.

Mitte der 80er Jahre hatte der ägyptische Geheimdienst, der mittlerweile eng mit den israelischen Kollegen zusammenarbeitete, mehrfach vor einem Gewaltausbruch gewarnt. Am 8. Dezember 1987 war es dann soweit: Nachdem ein Militärlastwagen mit zwei Taxis zusammengestoßen war und vier Palästinenser gestorben waren, brach die erste Intifada aus. Am Tag darauf traf sich die Führung der palästinensischen Muslimbruderschaft und beschloss, die politische Abstinenz zu beenden – die Hamas war entstanden. Das Konzept blieb einfach: die Forderung nach einem palästinensischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer. Und Terror, immer wieder.

Als 1993 das erste der Osloer Abkommen unterzeichnet wurde, es zumindest die Hoffnung auf ein selbstverwaltetes Gaza, ein besseres Leben für die Menschen gab, schickte die Hamas Selbstmordattentäter los, die israelische Linienbusse, sogar Gruppen von Kindern und Jugendlichen sprengten. Was damit erreicht werden sollte, war nie so ganz klar. Und zum ersten Mal überhaupt erlebten die Menschen in Gaza so etwas wie Aufschwung: Zwar waren die Siedlungen immer noch da, aber zum ersten Mal interessierte sich die internationale Gemeinschaft für sie. Geld wurde investiert, ein Flughafen gebaut. Es war die Zeit der großen Pläne: für Bahnlinien bis nach Kairo und Amman, nächster Halt Gaza, und einen Tiefseehafen. Was tatsächlich gebaut wurde, war ein Villenviertel mit Meerblick, in dem die plötzlich sehr reich gewordenen PLO-Funktionäre sich in Szene setzten. Die anderen Häuser blieben grau.

Es bahnte sich der nächste Konflikt an: In Gaza begann man, sich nach einer politischen Alternative zur PLO umzuschauen. Und die Hamas, deren Terrorismus bis dahin wenig Unterstützung gefunden hatte, bot sich dann als politische Kraft an, sehr zum Leidwesen der PLO, Israels und des Westens. 2005 ließ Israels Regierung alle Siedlungen im Gazastreifen räumen. Doch was als frischer Rückenwind für die palästinensische Führung gedacht war, ging nach hinten los. Wenige Monate später gewann die Hamas die ersten und einzigen Parlamentswahlen, übernahm dann 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen, den sie seitdem regiert.

Es begann das bisher letzte Kapitel der Isolation: Die internationale Gemeinschaft boykottiert die Hamas-Regierung; Israel und Ägypten erhalten seit gut 15 Jahren eine Blockade aufrecht. Anfangs sagte man noch, dass die Menschen ja nur die Hamas-Regierung stürzen, die offizielle Regierung in Ramallah wieder zum Zug kommen lassen müssten. Dann ging es darum, den Import von waffenfähigem Material zu verhindern. Dabei war immer allen klar, dass man irgendwann einen Plan brauchen wird. Aber eine richtig gute Idee hat bislang keiner gehabt.

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