Mit dem Rücken zur Wand

Nach dem Raketeneinschlag auf ein Krankenhaus wächst der Druck der Straße auf die arabischen Regime

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.

In Gaza-Stadt loderte das Feuer noch, als im Irak, im Libanon, in Jordanien, Ägypten und vielen anderen Ländern die Lage explodierte. Hunderttausende gingen auf die Straßen, aufgepeitscht durch die Flut an Bildern und Videos in sozialen Netzwerken. Dieser Gaza-Krieg ist noch viel mehr als früher eine Propaganda-Schlacht im Netz, in der Desinformation als mächtige Waffe eingesetzt wird.

Im Operationssaal des Al-Ahli Baptist Hospital, dem einzigen christlichen Krankenhaus im Gazastreifen, waren die Ärzte gerade bei der Arbeit, als eine Explosion das Gebäude erschütterte. Man habe zunächst gedacht, dass es sich um einen Luftangriff in der Nähe gehandelt habe, sagte Ghassan Abu Sitta, einer der Ärzte, der Nachrichtenagentur Associated Press. In den Tagen zuvor habe es mehrere Aufforderungen des israelischen Militärs gegeben, das Krankenhaus zu räumen. Ein Beleg dafür, dass es ein israelischer Luftangriff war, der nun wahrscheinlich mehreren hundert Menschen das Leben kostet? Israels Militär weist den Vorwurf von sich und versucht, dies auch zu belegen.

Doch die Dinge entwickeln sich so rasant, in einer extrem aufgeheizten Atmosphäre, dass man dagegen kaum noch ankommt. Israel, die Palästinensische Autonomiebehörde und viele Regierungen der Region stehen mit dem Rücken zur Wand. »Wir versuchen seit elf Tagen, einen Flächenbrand mit einem Wasserglas zu löschen«, sagt ein Mitarbeiter des irakischen Außenministeriums; ähnliche Statements gibt es auch aus anderen Hauptstädten der Region.

Man weiß und sagt das auch, dass man selbst niemals eine Situation akzeptieren würde, wie sie sich seit eineinhalb Wochen in Israel abgespielt hat. In Bagdad fühlt man sich an die Herrschaft des »Islamischen Staats« rund um Mossul erinnert. Und trotzdem: Gegen die öffentliche Meinung kann man wenig ausrichten, muss befürchten, dass die Ereignisse in Gaza auch das eigene Land destabilisieren.

In Israel empfängt man derweil reihenweise ausländische Staats- und Regierungschefs: Zuletzt waren Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden da, bekamen Luftalarme und Raketenangriffe mit. US-Außenminister Antony Blinken sprach zudem erneut mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas. Der hatte nach dem Einschlag im Krankenhaus ein Treffen mit Biden abgesagt und damit für erheblichen Unmut auf amerikanischer Seite gesorgt.

Abbas steht derzeit auch im Nahen Osten massiv in der Kritik. So fragen ägyptische Regierungsvertreter, warum sich der Palästinenserpräsident seit Tagen vor allem in Jordanien aufhält und auch dort ausländische Gäste empfängt, während zu Hause die Dinge aus dem Ruder laufen. Allerdings: Abbas ist nach fast 20 Jahren, als er zum ersten und einzigen Mal ins Amt gewählt wurde, so unbeliebt, dass ihm wahrscheinlich ohnehin kaum noch jemand zuhören würde.

Der Aufstieg der Hamas im Gazastreifen war zunächst auch sein Werk und das der Fatah, der größten Fraktion und lange Zeit dominierenden Kraft innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Nach dem Tod von Jassir Arafat 2004 galt Abbas als Übergangskandidat, als farbloser Technokrat. Dass 2006 eine mit der Hamas eng verbundene Wahlliste die Parlamentswahl gewann, diese dann 2007 die Macht über Gaza übernehmen konnte, das war vor allem eine Reaktion auf die Korruption, die politische Unfähigkeit von Abbas und seinen Leuten. Druck, etwas zu ändern, die Präsidentschaft abzugeben, gab es auch aus dem Westen kaum.

Abbas hielt in der gesamten Zeit daran fest, wieder die Kontrolle über Gaza übernehmen zu wollen, verhandelte immer wieder mit der Hamas vergeblich über die Bildung einer Einheitsregierung. Und auch jetzt heißt es aus seinem Umfeld, dass die Fatah, dass die Regierung nach dem Krieg wieder Gaza regieren werde. Abbas und die Fatah hätten ja die Unterstützung des Westens, könnten Gaza mit dessen Unterstützung und der arabischen Welt wieder aufbauen. Doch dort würde man gerne jetzt sofort einen Nachfolger sehen, jemand, der die Menschen in Westjordanland, Ost-Jerusalem und im Gazastreifen tatsächlich zusammenbringen und eine Alternative anbieten kann.

Der Einschlag im Krankenhaus in Gaza hat dem eine neue Dringlichkeit gegeben, denn wenn man den Blick durch die Region schweifen lässt, dann wird deutlich erkennbar, dass dies noch nicht die letzte Stufe gewesen sein dürfte. Mehrere Tausend haben in Krankenhäusern und Einrichtungen der Vereinten Nationen Zuflucht gesucht. Hunderttausende harren unter freiem Himmel aus. Rund um Gaza sind mehr als 350 000 israelische Soldaten aufmarschiert, bereiten sich auf die Bodenoffensive vor, von der sich alle sicher sind, dass sie demnächst beginnen wird.

Ein Grund für das lange Abwarten ist nach Ansicht der israelischen Medien auch die Frage nach dem Danach. Nicht nur aus Sicht Israels, sondern auch von anderen Regierungen der Region wäre der Idealfall, dass die Hamas dauerhaft beseitigt wird. Sicher ist auch, dass Israels Militär nicht lange in Gaza bleiben könnte. Aber ohne eine mehrheitsfähige palästinensische Führung, die tatsächlich regieren kann, blieben nur noch der Einsatz von UN-Friedenstruppen und die Hoffnung auf den Aufbau einer eigenen Zivilverwaltung – ohne Beteiligung von Abbas.

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