»Meininger Stadtgespräch«: Mehr Dialog ist möglich – mit manchen

Der »Bürger Steinmeier« spricht in Thüringen mit Menschen über die Corona-Pandemie

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 4 Min.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim dritten »Meininger Stadtgespräch«. Es wurde sich zugehört.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim dritten »Meininger Stadtgespräch«. Es wurde sich zugehört.

Es ist völlig egal, wer auf Menschen trifft: Ob der Bundespräsident jemandem begegnet. Ob eine Krankenschwester einen Pfarrer oder eine Schauspielerin trifft. Immer können Menschen andere Menschen überraschen. So wie der Rentner in dem hellblauen Pullover, der gleich am Anfang dem Bundespräsidenten, der Krankenschwester, dem Pfarrer, der Schauspielerin und noch drei anderen Menschen erklärt: »Zu Corona habe ich eigentlich nicht viel Negatives zu sagen.« Weder sei er jemals an Covid-19 erkrankt, noch hätten ihn die vielen Einschränkungen aus der Zeit der Pandemie wirklich getroffen. »An mir ist das vorbeigegangen.«

Im Verlauf der nächsten 40 Minuten wird der Mann das noch einige weitere Male so ähnlich formulieren – und sich so selbst in einer Corona-Grauzone verorten, deren Existenz man kaum mehr für möglich hält. Immerhin schien es in den Pandemiejahren 2020 bis 2022 eigentlich nur Schwarz oder Weiß zu geben. Auf der einen Seite die, denen die vielen Corona-Schutzmaßnahmen zu streng, zu übergriffig waren. Auf der anderen Seite jene, denen sie nicht weit genug gingen, denen sie zu lasch waren.

Dass Perspektiven wie die dieses Rentners an diesem Mittwochabend im thüringischen Meiningen sichtbar werden, ist der erste große Gewinn dieser Veranstaltung, die »Meininger Stadtgespräch« heißt und nun zum dritten Mal stattfindet. Hier sollen Menschen, die ganz unterschiedlich auf die Zeit der Corona-Pandemie schauen, miteinander ins Gespräch kommen und einander insbesondere zuhören. Um dieses Zuhören möglich zu machen, sind an diesem Abend zahlreiche runde Tische im sogenannten Volkshaus aufgestellt. Acht Menschen sitzen jeweils daran.

Man darf das alles auch als einen soziologischen Versuchsaufbau verstehen, der dazu beitragen soll, ein Land, das seinen inneren Zusammenhalt verloren zu haben scheint, zumindest ein bisschen wieder zu vereinen. Diese Diagnose hat Frank-Walter Steinmeier (SPD) in den vergangenen Monaten schon öfter gestellt, nicht zuletzt an diesem Dienstag. Im Rahmen einer seiner »Ortszeit«-Reisen führte er seine Amtsgeschäfte als Bundespräsident nun für drei Tage von Meiningen aus. Nicht nur er möchte herausfinden, ob Formate wie dieses dazu beitragen können, die Polarisierung der deutschen Gesellschaft zu überwinden. Um für sich selbst eine Antwort zu finden, sitzt er als »Bürger Steinmeier« an diesem Abend mit an diesem Tisch.

Der zweite große Gewinn des Abends ist, dass das mit dem ehrlich interessierten und respektvollen Zuhören tatsächlich gelingt. Sowohl an dem Tisch, an dem Steinmeier sitzt, als auch an den anderen Tischen. Obwohl so unterschiedliche Menschen beisammensitzen und über ein so kontroverses Thema wie Corona sprechen, wird in einigen Ecken des Raumes bisweilen sogar gelacht.

So hören beispielsweise an Steinmeiers Tisch alle nicht nur die Worte des Mannes im blauen Pullover, sondern auch die der Krankenschwester, die bis heute nicht gegen Covid-19 geimpft ist und davon erzählt, welchem Druck sie sich angsichts der zwischenzeitlich geltenden Impfpflicht im Gesundheitswesen ausgesetzt sah. Irgendwann, sagt sie, sei sie vor allem »aus kindlichem Trotz« gegen diese Impfpflicht gewesen. Niemand der Umsitzenden versucht sie zu bekehren, niemand stellt ihre Entscheidung infrage, niemand beschimpft sie. Erst recht natürlich nicht Steinmeier, der erzählt, für ihn persönlich sei der Umgang mit Sterbenden oder Toten während der Pandemie sehr schmerzlich gewesen. Er selbst habe in dieser Zeit einen engen Freund verloren, für den es nur eine kleine, »eine seltsame« Trauerfeier habe geben dürfen.

Nach Berlin kann Steinmeier von diesem Stadtgespräch deshalb einerseits die Erkenntnis mitnehmen, dass derartige Formate tatsächlich funktionieren – wenngleich er aber auch die Einsicht gewonnen hat, dass sich auch dabei nicht alle erreichen lassen. Jene zum Beispiel nicht, die sich zu »Spaziergängen« versammelt haben oder versammeln. Denn hier an den Tischen sitzen Menschen – wie etwa die Krankenschwester –, die bei aller Kritik an einzelnen oder vielen staatlich verordneten Schutzmaßnahmen in der Pandemie das Vertrauen in die Demokratie noch nicht gänzlich verloren haben.

Daneben gibt es jedoch auch Menschen, die längst nicht mehr bereit sind, anderen zuzuhören, und die sich völlig verabschiedet haben von demokratischen Diskussionen. Sie stehen lieber mit Transparenten – »Widerstand« oder »Schluss mit Politik gegen das eigene Volk« – für ein paar Minuten vor dem Volkshaus und machen ein bisschen Krach. Dass die drinnen sich von denen draußen nicht beeindrucken lassen und sich lieber weiter zuhören, ist der dritte große Gewinn des Abends.

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