Die Hand Russlands am nuklearen Zünder

Ein Strategiepapier gewährt Einblick in das sicherheitspolitische Denken im Umfeld der russischen Führung

Kriegsgefahr – Die Hand Russlands am nuklearen Zünder

Wenn Staaten nicht im selben Bündnis oder Block sind, beruht der Frieden zwischen ihnen auf der Angst vor einem Krieg.» Das schreiben drei hochrangige russische Politikwissenschaftler und Regierungsberater im Vorwort eines Strategiepapiers, in dem sie Empfehlungen für die künftige Sicherheitsdoktrin ihres Landes geben. Ursprünglich nur für den internen Gebrauch der russischen Regierung gedacht, wurde das in langen Debatten mit wesentlich mehr Experten entstandene Papier in einer bearbeiteten Fassung dann doch im Moskauer Verlag «Junge Garde» veröffentlicht. Der Potsdamer Welttrends-Verlag hat es jetzt auf Deutsch publiziert. Nicht weil er die darin ausgeführten Positionen teilt, sondern damit man sich «ein genaueres Bild vom Stand der Debatte zur nuklearen Abschreckung in Russland machen» kann. In einem gesonderten Vorwort spricht Welttrends von einem «ernüchternden Dokument der Radikalisierung einflussreicher Teile der russischen Eliten im Zuge des Krieges gegen die Ukraine».

Die verschärfte nukleare Abschreckung (die Autoren sprechen lieber von Zügelung, Einschüchterung oder Ernüchterung) ist der Dreh- und Angelpunkt in dem Dokument, sie wird als Lebensversicherung Russlands verstanden und ist die Grundlage aller Überlegungen. Dass diese Analyse nicht nur Gegenstand von Gesprächen hinter verschlossenen Türen ist, sondern in Moskau veröffentlicht wurde, ist ein Statement an die Welt, vor allem an die Mächte des Westens: Hütet euch, wir können auch ganz anders.

Dabei werden drei Traumata deutlich, die das Denken der politischen Klasse Russlands einschneidend prägen: die Auflösung der Sowjetunion und die massive Ostausdehnung der Nato nach 1990; die Nato-Angriffe auf Jugoslawien 1999; und die Weigerung des Westens, allen voran der USA, Russland als Weltmacht auf Augenhöhe zu akzeptieren. Letztlich wird all das darauf zurückgeführt, dass der Westen Russland als Atommacht nicht ernst genommen habe. Auch der «militärische Zusammenstoß in der Ukraine», die sich «mit Hilfe des Westens zum feindlichsten Staat der Welt gegenüber Russland entwickelt» habe, sei darin begründet, dass im Westen nur ein «unzureichendes Vertrauen in die nukleare Einschüchterung» durch Russland vorhanden sei. Dies habe Moskau gezwungen, «im Februar 2022 zur Speziellen Militäroperation überzugehen». Im Übrigen habe sich diese «Spezielle Militäroperation» Russlands erst durch die «klare Anweisung» des Westens an die Ukraine, auf dem Gefechtsfeld zu gewinnen, «in einen regionalen Krieg an einer 2000 Kilometer langen Front» verwandelt, der für Russland existenzielle Bedeutung habe.

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Was das Ergebnis des Ukraine-Kriegs sein müsse, davon haben die Autoren eine klare Vorstellung. Zunächst müssten auch «symbolische Ziele» wie das Kiewer Regierungsviertel sowie die Kommandozentralen von Militär und Geheimdiensten angegriffen werden. Es sei «unverständlich, dass das Fernsehen und andere Informationszentren des Kiewer Regimes noch nicht zerschlagen wurden». Das ukrainische Territorium solle – mit Ausnahme der westlichen Regionen – von den russischen Streitkräften kontrolliert werden. Neben den Teilen der Ukraine, die von Russland annektiert wurden und werden, solle eine «Neue Ukraine» in jenen Regionen des Landes gegründet werden, «die Russland nicht feindlich gesinnt sind» – als «entmilitarisierte landwirtschaftliche Pufferzone». Das Bewusstsein der Bevölkerung in den annektierten Regionen solle «umkodiert» werden, und zwar «nach dem Vorbild der Umerziehung der Bevölkerung in Ostdeutschland (in der DDR)». Das alles wird als «zweiter Teil des Krieges» bezeichnet, ohne den «die Früchte des militärischen Sieges Russlands entwertet» würden.

In dem Papier wird ausdrücklich bedauert, dass international «die Angst vor einem Kernwaffenkrieg … weitgehend verschwunden ist». Das müsse geändert werden, «um den internationalen Frieden zu erhalten». Zu diesem Zweck fordern die Autoren, «die doktrinäre Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen» zu senken. Bisher ist das im russischen Selbstverständnis nur erlaubt, wenn die Existenz Russlands als Staat bedroht ist. Stattdessen wird vorgeschlagen, Atomwaffen auch bei einer «Bedrohung der strategisch wichtigen nationalen Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bevölkerung» einzusetzen, was einen ziemlich weiten Ermessensspielraum beinhalten würde. Warnungen zum Einsatz von Atomwaffen «sollten einmalig sein», leere Drohungen «sollten niemals zugelassen werden», denn: «Den Worten müssen Taten folgen – das ist das Grundprinzip der Einschüchterung.»

Mit anderen Worten: Den Gegnern müsse klargemacht werden, «dass Russland sich nicht erlaubt, die Kernwaffen ›in Klammern zu setzen‹». Denn die Putin-Berater sehen ihr Land nicht nur in der Ukraine im Krieg. «Die herrschenden Kreise Europas» seien bereits «mit politisch-moralischen und militärökonomischen Vorbereitungen für einen großen Krieg mit Russland beschäftigt», schreiben sie. Auch deshalb müsse bei den europäischen Führungseliten die «›zivilisierende‹ Funktion der nuklearen Einschüchterung ›aufgefrischt‹» werden.

Die Publikation ist ein Statement an den Westen: Hütet euch, wir können auch ganz anders.

Zwar ist einerseits von einer vorsichtigen und durchdachten Politik der nuklearen Einschüchterung die Rede. Andererseits jedoch werden drastische Szenarien entworfen. So sei «unwahrscheinlich, dass die Deutschen es befürworten würden, Kiew mit immer mehr Langstreckenraketen zu beliefern, wenn sie wüssten, dass als Reaktion auf die Angriffe auf Belgorod, angenommen, die Stadt Frankfurt niedergebrannt werden würde – oder zumindest werden könnte». An anderer Stelle heißt es, dass Deutschland – dem die Autoren eine «schwarze Undankbarkeit» vorwerfen – «vollständig vernichtet werden muss, wenn es zu Kernwaffen greift».

Ausführlich werden die Veränderungen der geopolitischen Konstellation in den letzten Jahrzehnten beschrieben, durch die sich Russland zunehmend bedrängt sieht. Die beständige Osterweiterung der Nato, die «farbigen Revolutionen» in früheren Sowjetrepubliken, den Verlust von Territorien und Märkten betrachten die Autoren als «Frontalangriff auf die geopolitischen Interessen unseres Landes». Gleichzeitig klingt – etwa bei verlorenen Territorien – unverhohlen der regionale, nationalistisch begründete Machtanspruch mit. So heißt es, dass Russland mit der Auflösung der Sowjetunion, mit der Unabhängigkeit vormaliger Sowjetrepubliken «die Integrität des historischen Kerns des Landes» eingebüßt habe. Erst nachdem Russland «zu seinen gewohnten, jahrtausendealten Positionen des ›bewaffneten Großrusslands‹ … zurückgekehrt» sei, habe es sich geistig, wirtschaftlich und wissenschaftlich-technisch neu belebt.

Den Machtverlusten versucht Moskau entgegenzuwirken, indem es neue Allianzen sucht, bis hin zu massiven Rüstungsexporten. Die Autoren sprechen von den «Ländern der Weltmehrheit», die sich «von westlicher Vorherrschaft freimachen wollen» und als deren «militärstrategisch Federführender» Russland betrachtet wird. Dabei geht es um sogenannte strategische Partner wie China, Indien, Pakistan (allesamt Atommächte), aber auch um Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika. Und es geht im geografisch engeren Sinne um einen «strategischen Puffer», aus dem «der Gegner» rausgeworfen werden müsse, einen «Sicherheitsgürtel entlang der Grenzen der Russischen Föderation, vor allem zu den Ländern des nahen Auslands» – also den umliegenden ehemaligen Sowjetrepubliken.

Das Buch

Dmitrij Trenin, Sergej Awakjanz und Sergej Karaganow sind in leitenden Funktionen am Institut für Globale Militärökonomie und Strategie bzw. an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Hochschule für Ökonomien in Moskau tätig. Alle drei arbeiten im Rat für Außen- und Verteidigungspolitik mit.
Ihr Strategiepapier »Von der passiven zur aktiven Abschreckung. Russlands neue Sicherheits- und Geopolitik« erschien auf Deutsch im Welttrends-Verlag. 125 Seiten, 19,50 Euro. Auch als Digitaltext erhältlich (10 Euro). welttrends.de

So gewährt dieses Buch einen erhellenden wie erschreckenden Einblick in das Denken der politischen Elite Russlands. Es ist der ideologisch-theoretische Unterbau für aggressive Gebärden etwa des Putin-Vertrauten Dmitri Medwedjew. Der hatte beispielsweise im letzten Herbst angesichts britischer Waffenlieferungen an die Ukraine erklärt, es sei an der Zeit, «diese verdammte Insel der angelsächsischen Hunde sofort zu versenken». Nicht alles muss so kommen, wie in dem Buch vorgezeichnet, aber die Überlegungen stehen im Raum. Das macht klar, auf wie dünnem Eis wir uns mittlerweile sicherheitspolitisch bewegen; auch angesichts von Forderungen nach mehr atomarer Bewaffnung in Europa und Deutschland. Der nukleare Zünder, ohnehin in Reichweite, wird noch näher herangeholt.

Es gibt in dem Buch auch einige dezente Anknüpfungspunkte für Versuche der Verständigung. Etwa wenn hier und da eingeflochten wird, dass Atomwaffen hoffentlich nie wirklich angewendet werden müssten. Dass in Zeiten einer multipolarer werdenden Welt ein multidimensionales Wettrüsten verhindert werden müsse, weil niemand es gewinnen könne. Politiker und Diplomaten des Westens sollten auch auf diese Zwischentöne hören, wenngleich sie insgesamt vom atomaren Säbelrasseln übertönt werden. Wie verquer und gefährlich das Denken in der Logik der militärischen Drohungen ist, zeigt sich etwa an der Behauptung, dass eine niedrigere Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen ein weiteres Wettrüsten verhindern könne. Oder dass – noch absurder – die Tatsache, dass Russland und China Atomwaffen besitzen, «objektiv einer der Faktoren für die langfristige Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Ländern» sei.

Glaube indessen niemand, dass es nicht ganz ähnliche Bedrohungsszenarien in Washington und Brüssel gäbe. Dringend nötig sind nicht noch mehr Vernichtungswaffen, sondern mehr Dialog, Verständigung, Vertrauen, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Das gab es schon einmal, wenigstens in Ansätzen. Es nannte sich friedliche Koexistenz. Die Strategen aller Seiten sollten nicht nur nach vorn schauen, sondern auch mal dorthin zurück. Eine atomwaffenfreie Welt darf eben keine Schimäre sein, wie es die Autoren in ihrer Studie nennen, sondern sie muss ein von der Menschheit ernsthaft angestrebtes Ziel sein. Bei Strafe ihres Untergangs.

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