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IG Metall: In Zeiten multipler Krisen

Die IG Metall sucht auf ihrem Gewerkschaftstag nach neuen Antworten

  • Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 5 Min.

Von Sonntag bis Donnerstag treffen sich die rund 400 Delegierten der IG Metall auf ihrem Gewerkschaftstag und diskutieren die Weichenstellungen für die kommenden vier Jahre. Der Kongress steht diesmal unter dem Motto »Zeit für Zukunft«, die globalen politischen und ökonomischen Verwerfungen werden die Debatten über die Anträge prägen.

Die Gewerkschaften stehen in Anbetracht »multipler Krisen« vor enormen Herausforderungen, wie es im Grundsatzantrag des Gewerkschaftsvorstandes heißt, der ab Montag diskutiert wird. Gemeint sind die Umweltkrise, der Überfall Russlands auf die Ukraine, die damit verbundenen hohen Energiepreise und Inflationsraten, destabilisierte Lieferketten, Rohstoff- und Fachkräftemangel, globale Überkapazitäten in der Industrie und der Handelsstreit zwischen China und den USA.

Vor dem Hintergrund dieser Krisen sei auch die Verwundbarkeit des europäischen Wachstumsmodells offenkundig, stellt der Gewerkschaftsvorstand fest. Das gelte insbesondere für Deutschland, weil die hiesige Industrie exportorientiert sei. Sie benötige wachsende Absatzmärkte im Ausland, Versorgungssicherheit mit Rohstoffen, Vorprodukten und günstige Energie. Darum seien stabile Beziehungen für die deutsche Wirtschaft und ihre Beschäftigten essenziell.

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Auch seien weitreichende Investitionen in die grüne Transformation der Industrie nötig, um den Industriestandort Deutschland zu erhalten und unabhängiger zu machen, erklärt der Vorstand von einem nationalökonomischen Standpunkt aus. Dabei stellt die Gewerkschaft einerseits ein »gemeinsames Vorgehen mit Bündnispartner*innen aus Umwelt- und Sozialverbänden« in den Vordergrund. Denn die ökologische Transformation müsse gleichermaßen soziale und wirtschaftliche Fragen berücksichtigen. Doch ebenso wichtig sei andererseits »eine Zusammenarbeit mit Arbeitgeber- und Industrieverbänden«, wie es heißt.

Die kommt etwa bei der Forderung nach einem sogenannten Brückenstrompreis zum Tragen. »Es gibt aktuell keine wettbewerbsfähigen Strompreise in Deutschland«, kritisiert der Pressesprecher der IG Metall in Nordrhein-Westfalen, Mike Schürg, im Gespräch mit »nd«. Darum soll eine Strompreissubvention für energieintensive, aber auch mittelständische Unternehmen für deren Erhalt sorgen, wie aus einer Mitteilung der Gewerkschaft hervorgeht, die sie am Donnerstag gemeinsam mit Vertretern der Industrie veröffentlicht hat. Dieser Brückenstrompreis müsse ab 2024 gelten, sonst drohe ein Verlust industrieller Leistungsfähigkeit, warnte der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hoffmann, im Vorfeld des Gewerkschaftstages.

Dabei solle die Subvention durch eine niedrigere Stromsteuer für alle Verbraucher*innen flankiert werden. Zudem sollen auch ärmere und durchschnittsverdienende Haushalte nach dem Willen der Gewerkschaft staatliche Unterstützung erhalten, um sich einen CO²-neutralen Verbrauch und entsprechende Investitionen leisten zu können. Die Unternehmen müssten dafür im Gegenzug zur staatlich geförderten Umstellung auf grünen Strom eine Beschäftigungsgarantie abgeben. Die Sorge der Gewerkschaften vor Stellenabbau scheint groß.

Auch weil damit ein weiterer Mitgliederverlust einhergehen würde, mit dem die Gewerkschaften in Deutschland und europaweit seit Jahrzehnten zu kämpfen haben. Allein seit 2019 hat die IG Metall rund 100 000 Mitglieder verloren, wie aus dem Geschäftsbericht des Vorstands hervorgeht, der am Montag vorgestellt werden soll. Zuletzt hat sich die Zahl der Neueintritte wieder erholt – auch aufgrund hoher Inflationszahlen und der resultierenden stärkeren Tarifabschlüsse. Doch ein Ende des Negativtrends ist nicht in Sicht: Der Organisationsgrad sei mittlerweile unter 20 Prozent gesunken. Und auch die Tarifbindung nehme seit 30 Jahren kontinuierlich ab. Denn »wo wir keine Mitglieder haben und Betriebsgrenzen verwischen, scheint der Abschluss von Tarifverträgen oder auch nur die Bildung eines Betriebsrates weit entfernt«, hält die Gewerkschaft fest.

Dagegen dürfte die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche neue Mitglieder generieren, mit der die IG Metall in die Tarifverhandlungen der Eisen- und Stahlindustrie geht. Die könne auch ein Mittel gegen den Fachkräftemangel sein, sagt Schürig im Gespräch mit »nd«. Ebenso wie eine zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen in der Industrie, die in den vergangenen Jahren vermehrt der Gewerkschaft beigetreten sind. Im Sinne der Gleichstellung schlägt der Gewerkschaftsvorstand gleiche Löhne, strengere Geschlechterquoten für Aufsichtsräte und Leitungspositionen in Unternehmen sowie mehr Investitionen in die öffentliche Ganztagskinderbetreuung vor.

Doch die derzeitigen Krisen können aus Sicht der IG Metall nicht nur auf nationaler Ebene bewältigt werden: »Nicht Autarkie, De-Globalisierung oder Protektionismus sind die Antworten auf die handelspolitischen Fragen unserer Zeit.« Es bedürfe einer nachhaltigen Handelspolitik im Rahmen multilateraler Handelsregime, heißt es in der Beschlussvorlage des Vorstands. Dabei komme der EU eine besondere Rolle zu: »Die ambitionierten Initiativen Chinas und der USA verdeutlichen, dass eine strategisch souveräne EU auf eine proaktive Industriepolitik setzen muss.«

Europa werde ohnehin immer mehr zur entscheidenden Arena für die Arbeit der Gewerkschaften. Im entsprechenden Antrag dazu fordert der Vorstand den Schutz des Streikrechts auf EU-Ebene. Zudem sollen europaweit verstärkt soziale Mindeststandards wie die Mindestlohnrichtlinie vereinbart werden. »Die Tariftreue bei öffentlicher Auftragsvergabe sowie ein wirksames europäisches Union-Busting-Verbot« sind aus Sicht der Industriegewerkschaft ebenso notwendig wie die Stärkung der Rechte auf Demokratie am Arbeitsplatz.

Welche dieser Forderungen die IG Metall auf ihrem Gewerkschaftstag beschließt und dann auch in Anbetracht globaler Krisen durchsetzen kann, ist ungewiss. Als gesichert gilt dagegen, dass dies unter dem Vorsitz der ersten Frau an der Spitze der IG Metall, Christiane Benner, geschehen wird. Die Vorstandswahl findet am Montag statt. Anschließend sollen die rund 500 Anträge beraten und beschlossen werden.

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