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Bei Depressionen Therapieplatz häufig erst nach Jahren

Acht Prozent der Bevölkerung erkranken jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen Depression

Alljährlich im Herbst wird das »Deutschland-Barometer Depression« vorgestellt. Die Studie wird von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention mit wechselnden Schwerpunkten erarbeitet. Eine Befragung untersucht jährlich Einstellungen zur Depression in der erwachsenen Bevölkerung. Gefördert wird die Studie von der Deutsche-Bahn-Stiftung gGmbH.

An einer behandlungsbedürftigen Depression erkranken pro Jahr acht Prozent der Bevölkerung. Damit liegt ein sehr häufiges Leiden vor, wie Ulrich Hegerl erklärt, Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Depressionshilfe. Frauen seien doppelt so oft betroffen. Viele Patienten erlebten gesunde Phasen im Wechsel mit depressiven Episoden. In ihrer schweren Ausprägung seien Depressionen die häufigste Ursache für suizidale Handlungen, sagt Hegerl. Menschen mit häufigen Episoden verlieren im Schnitt zehn Lebensjahre. Eigentlich ist die Krankheit gut behandelbar, am besten mit einer Kombination von Medikamenten und Psychotherapie. Hegerl weist aber darauf hin, dass es große therapeutische Defizite in diesem Bereich gibt. Das heißt, Menschen suchen keine Hilfe oder erhalten sie zu spät.

Das ließe sich auch dadurch ändern, dass die Symptome einer Depression breiter in der Bevölkerung bekannt gemacht werden und zum Beispiel Angehörige schneller reagieren können. Zu den Krankheitszeichen, die mindestens 14 Tage andauern sollten, zählt die Unfähigkeit, sich zu freuen und Interesse etwa an anderen Menschen zu zeigen. Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit sinken, einerseits sind die Betroffenen unruhig, sie können aber zugleich stark verlangsamt reagieren. Weitere Zeichen sind Schuldgefühle, verminderter Selbstwert und eine Daueranspannung. Die Erkrankten haben ein Gefühl der eigenen »Versteinerung«, manche entwickeln auch Wahnvorstellungen. Schlafstörungen sind fast die Regel.

Insgesamt steigt die Zahl der Diagnosen seit einigen Jahrzehnten, was Hegerl aber als gutes Zeichen sieht: »Das heißt, mehr Menschen werden auch behandelt, Depressionen werden weniger versteckt.« Die Zahl der Suizide in Deutschland lag vor 40 Jahren noch bei 18 000, 2021 waren es noch 9000 – auch diese Entwicklung sei ein Zeichen für häufigere Therapien.

Für die aktuelle Studie wurden 5000 Erwachsene im Alter von 18 bis 69 Jahren befragt. Von diesen Menschen hatten nur 28 Prozent noch nie Kontakt mit der Krankheit. Fast ein Viertel bekam die Diagnose schon einmal gestellt, von diesen waren 278 gerade in einer akuten Episode. Ein Fünftel der Befragten vermutete nur, schon einmal depressiv gewesen zu sein. Aber 40 Prozent hatten die Krankheit schon bei Angehörigen erlebt, weitere drei Prozent als Behandler bei eigenen Patienten.

Schwerpunkt in diesem Jahr war der Zusammenhang von Depression und Einsamkeit. Beide Phänomene sind in der allgemeinen Wahrnehmung verknüpft. Dies bestätigte die Befragung: Menschen, die akut an einer Depression erkrankt sind, geben doppelt so häufig wie Nichterkrankte an, dass sie sich sehr einsam fühlen. Von Kranken wiederum berichtet mehr als die Hälfte von maximal bis zu vier direkten Sozialkontakten an einem durchschnittlichen Wochentag. In der Gesamtbevölkerung sind es nur halb so viele. Ein Großteil der Erkrankten (84 Prozent) beschreibt das Gefühl, in der Depression wie abgetrennt von der Umwelt zu sein.

Wer sich sehr einsam fühlt, muss jedoch keine Depression entwickeln: Auch depressiv Erkrankte mit mehr als vier Sozialkontakten pro Tag berichten deutlich häufiger, sich sehr einsam zu fühlen. »Sogar im Kreise der Familie oder Freunde haben viele Menschen in der depressiven Krankheitsphase das quälende Gefühl, von Umwelt und Mitmenschen abgeschnitten zu sein«, erklärt Hegerl. Die geringere Zahl der Sozialkontakte in der Depression sei oft eine Folge des sozialen Rückzugs, über den 82 Prozent der betroffenen Befragten berichten.

Hegerl rät Angehörigen: »Informieren Sie sich über die Erkrankung – wer nicht weiß, was eine Depression ist, wird den Rückzug des erkrankten Partners oder Freundes falsch einordnen.« Am besten können Angehörige unterstützen, indem sie einen Arzttermin organisieren und den Betroffenen gegebenenfalls begleiten. Zwei Betroffene berichteten zudem, es sei in ihrer Krankheitsphase besonders wichtig gewesen, dass sie nicht unter Druck gesetzt worden seien und sich nicht ständig hätten erklären müssen. Positiv wirkte, dass Belastungen am Arbeitsplatz reduziert werden konnten. Auch bei diesen Patienten dauerte es jedoch einige Jahre bis zur Diagnosestellung.

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