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»In voller Blüte« im Kino: Die Lebenden und die Toten

Im britischen Drama »In voller Blüte« standen Michael Caine und Glenda Jackson noch ein letztes Mal zusammen vor der Kamera

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Sie (Glenda Jackson), im Rollstuhl sitzend, dennoch voller Wildheit und klug eingesetzter Theatralik – er (Michael Caine) dagegen jederzeit kühl und kontrolliert in jedem seiner Worte und Gesten
Sie (Glenda Jackson), im Rollstuhl sitzend, dennoch voller Wildheit und klug eingesetzter Theatralik – er (Michael Caine) dagegen jederzeit kühl und kontrolliert in jedem seiner Worte und Gesten

Manche Dinge muss man erledigen, egal wie alt man ist. Oder gerade dann, wenn man alt ist, sehr alt. Die Geschichte, die diesem Spielfilm von Oliver Parker zugrunde liegt, ist authentisch. 2014 verließ der fast 90-jährige Bernard Jordan sein Pflegeheim in Hove bei Brighton, um in Frankreich an der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der D-Day-Landung teilzunehmen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn auch die anderen teilnehmenden Veteranen waren in diesem Alter. Ungewöhnlich wurde es dadurch, dass Bernard Jordan, weil sein Pflegeheim vergessen hatte, ihn rechtzeitig zur Feier anzumelden, sich allein auf den Weg machte und nun seinerseits »vergaß«, sich im Heim zu verabschieden. Dieses meldete ihn bei der Polizei als vermisst, und das brachte ihn in die Schlagzeilen. Die britischen Boulevardmedien titelten in dem Stile: Kriegsheld bricht aus Pflegeheim aus.

Ergibt diese Geschichte einen abendfüllenden Spielfilm? Michael Caine, der legendäre britische Filmstar, dem Oliver Parker die Rolle anbot, fand, das sei nicht der Fall – und lehnte ab. Er ist zwar auch 90 Jahre alt (sein Debüt als Schauspieler gab er bereits 1946), aber das allein reichte ihm nicht, eine solche Rolle zu spielen. Sein letzter Film war eigentlich bereits »Ewige Jugend« von Paolo Sorrentino, wo er an der Seite von Harvey Keitel einen berühmten britischen Komponisten spielte, der beim Geburtstag der Queen dirigieren soll, aber sich verweigert, weil er sich bereits endgültig aus allem zurückgezogen hatte – eine Glanzrolle zum Schluss. Doch das war schon 2015 und seitdem drehte er noch ein weiteres halbes Dutzend Filme.

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Caine las das Drehbuch noch einmal und sagte dann zu. Etwas war ihm aufgefallen, das anders sein könnte, als man es von einem ausrechenbaren D-Day-Gedenkfilm erwartete. Und diesen Pfad des Andersseins ging er nun entschlossen – zusammen mit einer anderen Uralt-Schauspielkollegin: Glenda Jackson. Mit ihr stand er schon vor einem halben Jahrhundert in Joseph Loseys »Die romantische Engländerin« vor der Kamera. Noch einmal eine Zeit zusammen verbringen, auch das war für beide ein Grund für diesen gemeinsamen Film.

Glenda Jackson hatte sich bereits 1992 vom Film zurückgezogen und saß bis 2015 als Abgeordnete für die Labour Party im britischen Unterhaus. Sie galt als schärfste Kritikerin von Tony Blair, der sie dann aber sogar in seine Regierung holte. Mit 80 Jahren kehrte sie jedoch auf die Theaterbühne zurück, feierte ein furioses Comeback mit »King Lear« und drehte auch wieder Filme. Ihre Rolle als Bernards pflegebedürfte Ehefrau Rene wurde wirklich zum Abschied: Im Sommer dieses Jahres starb diese wunderbare Schauspielerin, in der sich Durchsetzungskraft mit Verletzlichkeit verband.

Der britische Originaltitel des Films lautet »The Great Escaper«. Der deutsche Verleihtitel »In voller Blüte« klingt dagegen nicht nur recht infantil, sondern auch verlogen. Denn die beiden uralten Hauptdarsteller stehen nicht in voller Blüte, sondern sind bereits sichtlich welk. Sie haben das Ende vor Augen. »Fangen Sie keine dicken Bücher mehr an«, hatte der Arzt auf die Frage der herzkranken Rene geantwortet, wie lange sie noch zu leben habe. Sie zitiert das mit dem gehörigen Sarkasmus. Wenn dieser Film mit der recht ausrechenbaren Fabel dennoch höchst sehenswert geworden ist, dann liegt das an den beiden Altmeistern des Weltkinos (beide sind Oscar-Preisträger, beide sogar zweifach). Geradezu kaltblütig spielen sie gegen jeden Anflug von Sentimentalität an.

Bernard, genannt Bernie also heftet sich seine Kriegsorden ans Jackett und steigt erst in den Bus und dann auf die Fähre, wo er bereits andere Weltkriegsveteranen trifft. Wichtig war für Caine, dass der Film den Krieg nicht verherrlicht. Die vielen Tausend jungen Soldaten, die meisten noch kampfunerfahren, die bei der Landung in der Normandie starben, waren keine Helden, sondern Opfer des Krieges. Und was ist mit den alten Männern, die hier an Krücken gehen und an Blasenschwäche leiden? In ihnen ist der Schrecken von vor 70 Jahren immer noch gegenwärtig.

Bernard hat noch etwas, das er jemandem zurückgeben muss. Eine kleine Schachtel mit einem Brief darin. Die gab ihm vor dem Angriff ein junger Soldat, der mit seinem Schützenpanzer in den Kugelhagel fahren musste, während Bernard, der als Elektriker das automatische Öffnen des Bugs des Landungsbootes überwachte, an Bord blieb. Der Soldat hatte Todesangst und wollte nicht von Bord. Er solle sich nicht fürchten, es werde ihm schon nichts passieren, machte Bernie ihm Mut. Augenblicke später war der Soldat tot, und Bernard hielt die Schachtel mit dem Brief des Soldaten an seine Frau in Händen.

50 000 alliierte Soldaten starben bei der Landung – dreimal so viele deutsche Soldaten. Knappe historische Dokumentarszenen machen die Wucht des gewaltsamen Aufeinandertreffens fühlbar. Ich denke dabei an Konstantin Simonows Kriegs-Romanzyklus »Die Lebenden und die Toten«, dem der Autor den Satz voranstellte, der Krieg sei immer schrecklich, für die Sieger ebenso wie für die Besiegten.

Nach der Schlacht war der Strand rot vom Blut der Getöteten. Und Bernard besitzt den Brief samt Schachtel immer noch – und nun ist wohl die letzte Chance, lang Versäumtes nachzuholen. Er will zu dem Soldatenfriedhof, wo der Kamerad beerdigt wurde und ihn dort ablegen.

Ist das eine allzu patriotische Filmhandlung? Nur sehr äußerlich gesehen. Regisseur Oliver Parker sagt: »Einige mögen den Krieg überleben, aber keiner bleibt dabei gänzlich unversehrt. Doch niemand gewinnt den Kampf gegen das Alter.« Diese doppelte Perspektive zieht sich durch den Film. Wie Michael Caine und Glenda Jackson es spielen, das macht den Film aus. Dies ist wohl das einzige dem Menschen mögliche Heldentum: sehenden Auges den Verlust körperlicher und geistiger Kraft mitzuerleben und angesichts der unerbittlich voranschreitenden Zeit doch nicht zu kapitulieren, jedenfalls nicht voreilig.

So auch dieses alte Paar, das nicht viele Worte um die wichtigen Dinge des Lebens machen muss – und über die unwichtigen erst recht nicht. Man schweigt zumeist angesichts des Pflegeheim-Alltags oder bedenkt ihn mit knappen Worten. Oder wie Caine, einen Aufenthaltsraum des durchaus noblen Heims betretend, zu einer lange nicht gesehenen Mitbewohnerin sagt: »Sie leben ja noch; ich dachte, Sie wären inzwischen gestorben.«

Was wird hier, an der letzten Station, aus einer lebenslang bewahrten Liebe? Sie transzendiert gleichsam ins Unangreifbare, zieht sich auf gemeinsame Erinnerungen zurück und feiert den seltenen schmerzfreien Augenblick. Dabei ist das Spiel von Caine und Jackson geradezu konträr: Sie, im Rollstuhl sitzend, dennoch voller Wildheit und klug eingesetzter Theatralik – er dagegen jederzeit kühl und kontrolliert, in jedem seiner Worte und Gesten Sir Michael Caine. Woher kommt dann die ungeheure Intensität des Zusammenspiels? Nicht zuletzt aus ihrer Gegensätzlichkeit.

Aber nicht das allein war es, was Caine dazu brachte, diesen Film – nach den 160, die er bereits gedreht hat – doch noch zu machen. Es sei, sagt er, vor allem jene Szene im Film gewesen, als Bernard auf deutsche Kriegsveteranen trifft, die ebenfalls des blutigen Gemetzels beim D-Day gedenken wollten. Wie spielt man das? Vielleicht nur so wie Caine es kann, so reduziert und doch voller Empathieanklänge. Versöhnung der einstigen Feinde? Manchmal ist es nicht mehr als echte Sprachlosigkeit und ein knappes Salutieren voreinander.

»In voller Blüte«, UK 2023. Regie: Oliver Parker; Buch: William Ivory. Mit: Michael Caine, Glenda Jackson. 96 Min. Jetzt im Kino.

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